: Schiffskatastrophen und andere Untergänge
Ziemlich viel von dem, was Sie immer schon von der Versenkung der „Wilhelm Gustloff“ wissen wollten: märchenhafte Verkaufszahlen, Jubel und Trubel rund um den neuen Günter Grass. Literarische Einwände scheinen bei der Novelle „Im Krebsgang“ nicht zu zählen – dabei sind sie gewichtig
von DIRK KNIPPHALS
Also, war er nun der Erste – oder war er es nicht? Das ist, scheint’s, die Kernfrage, um die sich die neue Grass-Debatte gerade im Kreise dreht. Als ob in den kalten Fluten der Ostsee eine Geschichte nur sehnsüchtig darauf gewartet hätte, von einem Schriftsteller wachgeküsst zu werden.
Nun kommt es jedenfalls im Leben wie in der Literatur bekanntlich nicht immer darauf an, Erster zu sein. Auch nicht immer öfter. Und überhaupt wird man zunächst ganz spielverderberisch feststellen dürfen, dass die Fragestellung an sich schon eine unliterarische Vereinfachung darstellt, und zwar fernab der Entscheidung, auf welche Seite man sich in der großen literarischen Jahresanfangsdebatte schlägt – ob auf die des Altmeisters Günter Grass, wie es viele der ersten Besprechungen getan haben, oder auf die Seite von Autoren wie Walter Kempowski, Alexander Kluge, Gert Ledig, W. G. Sebald und anderen, die je auf ihre Weise zuvor das Leid der deutschen Zivilbevölkerung behandelten.
Ein eigenartiges Wettrennen. Gibt es mit der Erstbeschreibung deutscher Ertrinkender im Zweiten Weltkrieg mittlerweile Preise zu gewinnen? Handelt es sich bei der Novelle „Im Krebsgang“ überhaupt noch um ein literarisches oder schon um ein gesellschaftstherapeutisches Unternehmen? Fragen wird man wohl noch dürfen. Allerdings war es seit Mitte der Neunzigerjahre Günter Grass selbst, der, so kann man das sehen, von der Literarizität seiner eigenen Bücher abzulenken suchte. Bei ihm hat das Setzen auf außerliterarische Aspekte längst Methode, nicht nur aus Gründen des politischen Engagements.
Als er das letzte Mal im Zentrum der Debatten stand, 1995 war das – die verbalen Schlachten ums „Weite Feld“ dürften noch in Erinnerung sein –, monierten die Kritiker vielerlei, vor allem aber die Konstruktion und Sprache des Romans. Er sei „unlesbar“, diese harsche Analyse, hingeschrieben damals von Iris Radisch in der Zeit, ließe sich als Fazit unter sehr viele Besprechungen setzen – und hat irgendjemand das Buch in den sieben Jahren, die er inzwischen Zeit hatte, durchgelesen, hm?
Grass dagegen leitete damals die Debatte vom ästhetischen aufs politische Feld um, indem er steif und fest behauptete, die Kritiker würden in Wirklichkeit seine ablehnende Haltung zur Wiedervereinigung stören. Eine Ausweichstrategie vor den eigentlichen Kritikpunkten, mit großer Verve betrieben. So was kann er. Karl Heinz Bohrer resümierte damals im Merkur, Grass gebe den „Märtyrer offenbar mit Gusto“, er versuche, das „künstlerische Aus, das sich seit spätestens zehn Jahren ankündigt, zu einer politischen Verfolgung umzumünzen“. Dass man seine Bücher rein als Bücher für misslungen halten kann, das will ihm nicht recht in den Kopf.
Dazu, sich als Märtyrer zu stilisieren, hat er derzeit keinen Anlass. Jubel, Trubel, märchenhafte Verkaufszahlen – ob es nun in der Beschreibung ziviler deutscher Leiden die Poleposition besetzt oder nicht. Allerdings: Ästhetische Kategorien sind aus dem Spiel. Zwar steht in jeder zweiten Besprechung, dass es intellektuell und sprachlich mitreißendere Erzählungen gibt – Absicherung muss schließlich sein. Aber das bleibt seltsam folgenlos. Zu nahe liegt offenbar die Versuchung, manches Wissenswerte rund um die letzte Fahrt des Kraft-durch-Freude-Schiffes „Wilhelm Gustloff“ zu erzählen, dessen Versenkung durch das sowjetische U-Boot „S 13“ die Novelle schildert. Und, ach ja, die fleißigen Recherchen werden gepriesen. Denn Grass legt die Handlung gewissermaßen um die Schiffskatastrophe selbst an; er beschreibt etwa das Schicksal des Namensgebers des Schiffes, eines Nazibonzen, sowie das seines Mörders, eines jüdischen Überzeugungstäters. Gelobt wird also viel, nur im großen Bogen um das Buch herum.
Und die Gegenseite? Ist im Prinzip auf gleicher Linie. Auch die negativen Stimmen arbeiten sich kaum am Buch selbst ab. Man bestreitet eben nur, dass Grass ein Erstrecht in Sachen Tabubruch beanspruchen darf, und spielt dagegen seine Favoriten aus. Damit aber wiederholen auch die Kritiker des Buches eine Lesart, die Grass selbst vorgibt: diejenige, dass es sich um eine historische Novelle mit dem Untergang der „Wilhelm Gustloff“ als Zentrum handelt. Zur Nobilitierung dieser Lesart wird in dem Buch einiges aufgefahren, unter anderem ein Alter Ego des einzigen lebenden deutschen Literaturnobelpreisträgers selbst. Die Figur eines „Alten“ taucht schemenhaft auf. Mehrmals heißt es von ihm, er habe sich – hallo, Selbstironie – „leer geschrieben“. Einmal wird er ausdrücklich als Autor der „Hundejahre“ vorgestellt. An einer Stelle spricht dieser „Alte“ von seinem „Versagen“, bislang nichts über die „Wilhelm Gustloff“ geschrieben zu haben. Als wolle man ihn für diese Einsicht hätscheln, hakt die Debatte bei diesem Punkt ein. Immerhin sei die Erzählung jetzt ja vollbracht, lieber spät als gar nicht.
Nur steckt bei Grass allerdings letztlich doch ein gesellschaftstherapeutisches Anliegen dahinter. Das Versagen des „Alten“, die „Gustloff“ betreffend, wird in der Novelle deutlich mit dem Wiederaufkommen von nationalsozialistischem Gedankengut in Verbindung gebracht: Nun können sich eben Neonazis und Revanchisten dieser Geschichte bemächtigen.
Es liegt eine beträchtliche Hybris in dieser zunächst wie eine Selbstanklage erscheinende Wendung; Thomas E. Schmidt hat sie in der Zeit herausgearbeitet: „Wie mächtig muss er sich gefühlt haben, wenn er meint, das rechte Denken verhindert haben zu können, wie mächtig fühlt er sich noch immer, wenn er hofft, durch Umerzählen potenzieller rechter Mythen das öffentliche Klima noch einmal abzukühlen.“ Selbst wenn Grass Tabus gebrochen haben sollte (er hat es nicht), kann man also so seine Probleme mit dem Buch haben.
Ästhetisch auch wieder. Denn nun mag Hybris ein gar nicht mal schlechter Treibstoff für literarische Unternehmungen sein. Walter Kempowski etwa, um nur einen der Grass-Antipoden noch einmal zu nennen, produziert in seinem „Echolot“-Projekt aus der theoretisch unhaltbaren und wohl auch durchaus vermessenen Haltung heraus, via Tagebücher der Zeit des Zweiten Weltkriegs auf die Spur zu kommen, wahre Materialgebirge. Bei Grass aber ist neben allem anderen eine merkwürdige erzählerische Verzagtheit zu verzeichnen.
Paul Pokriefke, so heißt der Erzähler (der „Alte“ bleibt im Hintergrund), und wenn er zu etwas eigentlich gar keine rechte Lust hat, dann ist es, die Geschichte zu erzählen. Immer wieder muss er dazu angetrieben werden, zum einen von seiner Mutter Tulla – Grass-Aficionados aus früheren Werken bekannt –, einer Überlebenden der „Gustloff“: „Wie aisig die See jewesen is und wie die Kinderchen alle koppunter. Das musste aufschraiben.“ Zum anderen angetrieben von seinem Sohn, der, so stellt sich irgendwann heraus, eine Neonazi-Homepage über die „Gustloff“ ins Internet gestellt hat.
Die Mutter will, dass erzählt wird, kann selbst aber nicht. Der Sohn erzählt, aber Nazikitsch. Und der Erzähler, ein mittelmäßiger Journalist, ziert sich, hat Bedenken und Selbstzweifel, stolpert voran (spaßeshalber sei erwähnt, dass Grass ihm eine biografische Episode bei der taz zugesteht, ausgeführt wird das aber leider nicht). Im Ganzen eine Erzählsituation, die waghalsig genug ist, um interessant hätte werden zu können. Nur hält Grass beim Springen zwischen den einzelnen Perspektiven die Fäden nicht zusammen.
Lose Fäden an allen Ecken und Enden. Über Alexander Marinesko, Kapitän des unglückseligen sowjetischen U-Bootes, erfährt man in diversen Erzählanläufen immer das Gleiche: dass er auf seinen Landgängen gerne trank. Die Vater-Sohn-Geschichte bleibt blass, Tulla Pokriefke ist ein Abziehbild. Und vollends unausgeführt bleibt die Geschichte eines David, der eigentlich Wolfgang heißt, Gymnasiast ist, sich als Jude ausgibt, mit Konrad im Internet streitet und am Schluss von diesem erschossen wird.
Irgendwo in dem Buch hat Grass seinem Erzähler ein Verbotsschild aufgestellt, sich in die Gedanken der Figuren hineinzuversetzen. Das mag man als Selbstbescheidung verstehen. Nach einem genaueren Blick wird man aber eher behaupten wollen, dass er an seinen Figuren gar kein rechtes Interesse hatte. Oder was soll man von einem Erzähler halten, dem am Ende des Buches zu seinem immerhin zum Mörder gewordenen Sohn nur Plattitüden einfallen?
Wahrscheinlich ist es gut, einfach mal hinzuschreiben, dass dies nicht das große „Gustloff“-Buch ist, das man nach allem, was in den vergangenen Tagen zu hören war, erwarten mag. Dies ist zum einen ein literarisch tapeziertes historisches Feature rund um die Versenkung eines Schiffes, die 7.000 Tote forderte. Als solches ist das Buch, wenn es einem gelingt, von der gelegentlich knarzigen Sprache abzusehen, gar nicht uninteressant; ziemlich viel von dem, was Sie immer schon mal über die Tragödie der „Wilhelm Gustloff“ wissen wollten. Zum anderen aber ist es ein oberflächliches Traktat darüber, wie die NS-Ideologie immer wieder an die gesellschaftliche Oberfläche kommt. Zum Dritten ist es eine seltsam verrutschte, immer wieder nur angerissene und im Ganzen erzählerisch versenkte Familiengeschichte.
Ein Aspekt an dem Buch ist allerdings beinahe rührend: der Spaß, mit dem Grass immer wieder auf allerneueste Medientechnologie zu sprechen kommt. Wörter wie Internet, Windows, Browser baut er mit Lust in seine berühmt-berüchtigt sinnlichen Sätze ein. Man spürt förmlich: Hier wollte der „Alte“ noch einmal vorne dran sein. Erster ist er aber auch hier nicht.
Günter Grass: „Im Krebsgang“. Steidl Verlag, Göttingen 2002, 216 Seiten, 18 €
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