: Sind so kleine Öhrchen
Skandal in der Schlagerindustrie: das dunkle Geheimnis von Bohlen, Siegel und Co
Dieter Bohlen ist völlig mit den Nerven fertig. Es ist kein schöner Anblick, wenn Dieter Bohlen mit den Nerven fertig ist. Das wird uns klar, als der Popmillionär die Tür zu seiner Villa vor den Toren Hamburgs öffnet. Aschfahl die Haut, dünn sein Haar, schlaff der Händedruck. Dennoch strahlt der Schlagerindustrielle: „Kommen Sie rein“, sagte er mit jener Stimme, die wir alle aus Hits wie „Brother Louie“ kennen – zu kennen glauben …
Mit einer matten Handbewegung bedeutet er uns einzutreten. Und ist weit entfernt vom sympathischen Künstler, als den wir ihn aus Funk und Fernsehen kennen. Lose hat er sich einen weißen Bademantel um jene breiten Schultern geworfen, mit denen er seit Jahren schon die Last des Ruhmes stemmt. In flauschigen Pantoffeln schlurft Bohlen voraus, wir schleichen hintendrein. Vorbei an seiner Sammlung babylonischer Vasen, vorbei an den Gemälden schottischer Präraffaeliten, vorbei auch an der Küche, in der sich die höhensonnengegerbte Sangeskraft Thomas Anders’ gerade einen Storch brät, und schließlich die Stufen hinab in den Keller. Dort, in einem Bürosessel unter Goldenen Schallplatten, erwartet uns – Ralph Siegel! Auf dem Schoß des Komponisten: die blinde Hoffnung des Grand Prix, Corinna May. Siegels Miene verrät grimmige Entschlossenheit: „Meine Herren“, eröffnet der siegesverwöhnte Beau und drückt einen Knopf auf dem Mischpult, „wir wollen gleich die Karten auf den Tisch legen.“
Aus den Lautsprechern tönt Siegels Grand-Prix-Beitrag „I Can’t Live Without Music“. Spontan fährt uns der Beat ins Blut, fingerschnippend folgen wir dem Takt. Dolle Nummer! „Lassen Sie das!“, zischt Bohlen schroff, „das ist nicht witzig!“
Ralph Siegel schiebt die orientierungslose Corinna May von den Knien und fragt düster: „Fällt Ihnen an der Musik nichts auf?“ Hm. Die fetten Beats? Die fein geschwungene Melodie? Der geklöppelte Text? Siegel nickt resigniert und sagt nur ein Wort: „Kinderarbeit.“
Seit das RTL-Magazin „Blitz“ aufgedeckt hat, in welchem Ausmaß die deutsche Schlagerindustrie ihre Hits in Billiglohnländern fertigen lässt, jagt eine Enthüllung die nächste. Die Wildecker Herzbuben? Lassen ihre Schunkelhymnen von österreichischen Strafgefangenen produzieren. Heinz-Rudolf Kunze? Seine Texte werden von deutschstämmigen Ukrainern geliefert, die Melodien kommen aus Taiwan. Howard Carpendale? Nutzt als Südafrikaner das Rhythmusgefühl der verelendeten Massen in den ehemaligen Townships aus. Und die Zillertaler Schürzenjäger lassen ihre Platten seit Jahren schon in Burma pressen. Fast täglich tauchen in der Fachpresse neue Details über die bizarren Machenschaften der Schlagerfürsten auf. Für Dieter Bohlen alles andere als ein Zuckerschlecken: „Kommt vorbei, ich will auspacken“, hatte er am Telefon angekündigt, „am Ende kommt’s ja sowieso raus.“
Mit einem Seufzer nimmt Bohlen auf Siegels Knie Platz und sekundiert: „Seit Jahren lassen wir in Indien produzieren. In einer Manufaktur bei Bombay. Die zentnerschweren Beats werden von Kindern in die Hitfabrik geschleppt. An den scharfen Melodien verletzten sie sich fast täglich. Und der Text ist so flach, dass nur Kinder darunter kriechen können.“ Aber warum nur? Warum? „Um letzte Verbesserungen vorzunehmen. Gerade bei den Texten geht’s um Feinheiten, da kommen Kinderhände viel besser ran.“ Das leuchtet ein.
„Hits von Kids, das war jahrelang meine Devise“, sagt Siegel. „Meine auch“, meint Bohlen und schaut betreten zu Boden. „Und was ist mit mir? Darf ich wieder nicht beim Grand Prix singen?“, fragt Corinna May. „Wie alt bist du? Darfst du hier schon mitreden?“, brüllt Siegel rhetorisch. Zufrieden betastet er die prompt geschwollenen Adern an seinem Hals und fährt leise, fast vertraulich fort: „Nun wissen Sie alles. Es ist Unrecht. Die Leute sollten das wissen.“
Bohlens Dauergrinsen gerinnt zu einer bitteren Grimasse. Als wollte er uns um Verzeihung bitten, beginnt er zunächst stein-, dann herzerweichend zu weinen: „Ich war ja sogar mal da, in Indien.“ Siegel reicht Bohlen ein blütenweißes Taschentuch. Es dauert eine Weile, bis der weiter erzählen kann. Vom kleinen Vije, den seine Familie an Bohlens Geschäftspartner verkauft hat. Von den irreparablen Ohrenschäden, die der Siebenjährige schon jetzt hat. „Der Junge tat mit wirklich leid. Aber was sollte ich tun?“, schluchzt Bohlen, „Wir stehen alle unter diesem enormen Druck. Hit auf Hit auf Hit. Und keiner hat Verständnis für uns.“
Wir haben verstanden. Fahren nachdenklich zurück in die Redaktion. Und geben diesen Skandaltext in Auftrag. Wie üblich, bei den bedauernswerten Insassen einer guatemaltekischen Lohnschreiberei.
ARNO FRANK
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