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matthias urbach über Nebenwirkungen„Das kann doch kein Zufall sein“

Man denkt an jemanden, und schon ruft diese Person an. Unwahrscheinlichkeit kann aber auch viel gefährlicher sein

„Gott würfelt nicht.“ (Albert Einstein)

Glauben und Zufall gehen nicht zusammen. Doch obwohl der Glaube an Gott schwindet, findet der Zufall keine Jünger. Im Gegenteil: Wenn etwa ein alter Freund anklingelt, just als wir gerade an ihn gedacht haben, glauben wir an ein Zeichen für Verbundenheit.

„Das kann doch kein Zufall sein!“

Das dachten auch die Geschworenen in der britischen Stadt Chester, als sie im Verfahren „die Krone gegen Sally Clark“ zu urteilen hatten. Sie verbannten die Juristin Clark wegen Doppelmordes hinter Gitter. Dabei beteuerte diese, ihre Söhne seien jeweils am plötzlichen Kindstod gestorben, erst der elfwöchige Christopher, ein Jahr später der achtwöchige Harry.

Ein Zufall? Das durfte nicht sein. Schließlich war Sally Clark eine Trinkerin – und die Wahrscheinlichkeit für zweifachen plötzlichen Kindstod laut Experten bloß 1 zu 73.000.000.

Nichts ist schöner als ein wissenschaftlicher Beleg für unsere Vorurteile. Nur Sally Clark hat kein Einsehen und kämpft seit zwei Jahren gegen das Urteil. Rund 50 Briefe hat sie erhalten von Familien, denen der plötzliche Kindstod ebenfalls zwei Kinder raubte – oder gar mehr. Also doch nicht so unwahrscheinlich?

Wenn es nur das wäre: Selbst wenn die 1 zu 73 Millionen stimmten, sagen sie nur aus, dass einer Frau sehr selten zwei Kinder plötzlich wegsterben. Sie bedeuten nicht, wie die Geschworenen offenbar glaubten, dass Sally Clark bloß mit dieser klitzekleinen Wahrscheinlichkeit unschuldig wäre.

Darüber macht die Statistik keine Aussagen: Clark ist schließlich entweder schuldig oder nicht. Die Statistik kann bloß helfen, die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums der Geschworenen abzuschätzen. Dazu müsste man aber auch die Wahrscheinlichkeit dafür kennen, dass eine Mutter ihre beiden Kinder umbringt. Das tut in Großbritannien grob geschätzt nur eine von 2 Milliarden Müttern.

Für einfache Geschworene sind solche Betrachtungen überkomplex, für manchen Richter auch. 1991 wurde, gleichfalls in Großbritannien, der Verdächtige Dennis Adams der Vergewaltigung schuldig gesprochen, weil seine DNA mit der des Täters übereinstimmte. Durch alle Instanzen. Dabei sprachen alle übrigen Indizien dagegen. Selbst das Opfer hielt ihn für unschuldig. Macht nichts: Die Wahrscheinlichkeit, dass die DNA eines Unschuldigen mit der des Täters übereinstimmte, sei nur 1 zu 200.000.000, erklärten die Forensiker. Astronomisch klein. Wachsen die (Un-)Wahrscheinlichkeiten erst in die Millionen, könnte man den Geschworenen genauso gut erzählen, es ist unmöglich. Wer hofft schon ernsthaft auf einen Haupttreffer im Lotto bei einer Quote von 1 zu 140.000.000? Trotzdem wurde im letzten Jahr der Jackpot 43-mal geknackt.

Dass überhaupt Gefängnisse entstanden, war, kosmisch gesehen, exorbitant unwahrscheinlich. Dazu musste die Sonne die richtige Größe haben, die Erde den richtigen Abstand, es brauchte eine passende Atmosphäre, Wasser und einen Mond, der es in Gezeiten hin- und herzerrt. Schließlich musste sich das Leben durch eine langwierige Evolution quälen – und es nicht mit weniger bauwütigen Primaten bewenden lassen. Trotz einer so mickrigen Wahrscheinlichkeit gibt es ein solides Gefängnis, in dem Sally Clark nun einsitzt und auf bessere Zeiten hofft.

Dieser Zufall ist vielen so ungeheuer, dass sie es vorziehen, an einen Schöpfer zu glauben. Selbst wer das nicht tut, will wenigstens mit solchen Zufällen nichts zu tun haben. Wir haben die Sachen gern im Griff. Hat es nicht doch eine Bedeutung, wenn ich gerade in dem Moment an meine Tochter denke, an dem sie, meilenweit entfernt, stolpert – und sich das Bein bricht?

Der okkult veranlagte Psychoanalytiker Carl Gustav Jung deutete solche Zufälle als „Synchronizitäten“, als eine Verbindung von Geist und der Welt der Wahrnehmung. Seine Anhänger wollen uns noch heute einreden, diese Zufälle hätten einem wirklich was zu sagen.

Okay, da sind diese sehr seltenen Ereignisse – aber es gibt viele verschiedene davon. Reichlich Menschen gibt es auch. Also müssen ständig unwahrscheinliche Dinge passieren. Warum sonst weiß fast jeder, den man fragt, von irgendeiner „Synchronizität“ zu berichten.

Etwas als ohne Bedeutung hinzunehmen, widerspricht unserer Natur. Folglich wollten die Mediziner das Phänomen „plötzlichen Kindstod“ viele Jahrzehnte nicht als das akzeptieren, was es ist: als Tod ohne jede Erklärung. Lieber diagnostizierten sie „nachlässige Mütter“.

Und so diagnostizieren Gerichte auch lieber mörderische Mütter. Doch ob die Zweifel an Clarks Schuld wirklich klein genug für lebenslange Haft sind, das prüft derzeit die Revisionskommission. Glaubt man ersten Äußerungen, ist sie dem Zufall gegenüber aufgeschlossen.

Fragen zu Nebenwirkungen?kolumne@taz.de

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