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Harmoniums fürs Vaterland

Kultur in Kabul (Folge 3): Die Hälfte des Radioorchesters trägt keine Vollbärte mehr. Statt religiöser spielen sie jetzt patriotische Lieder – und der Sänger Nareez träumt von einem Gesangswettbewerb

von SVEN HANSEN

Radio Afghanistan. Großer Saal. Neun Männer sitzen mit ihren Instrumenten im Halbkreis auf dem dreckigen roten Teppich der Bühne in dem Sender, der einst „Radio Kabul“ und unter den Taliban „Radio Scharia“ hieß. Der Saal ist nicht geheizt. Trotzdem lungern hier, in dicke Jacken gehüllt, etliche männliche Mitarbeiter des staatlichen Radio- und Fernsehsenders herum. Offenbar haben sie nichts zu tun. Die Musiker stimmen ihre Instrumente. Die zwei Kameramänner rechts und links der Bühne testen ihre rollenden Fernsehkameras – nach ihrem klobigen Design zu urteilen, sind sie mindestens dreißig Jahre alt.

Vor der Tür parkt ein Ü-Wagen, ihn ziert noch ein westdeutsches Exportnummernschild. Auf dem großen Gelände stehen Gerippe von Gebäuden, die mit Hilfe der Sowjetunion und der DDR geplant und dann wegen der politischen Ereignisse nie fertig gestellt wurden. Bei einer riesigen Satellitenschüssel existiert nur noch die untere Hälfte; eine von den Truppen des Fundamentalistenführers Gulbuddin Hekmatjar in den Machtkämpfen der 90er-Jahre abgefeuerte Rakete wollte den Sender zum Schweigen bringen.

Das Orchester ist bereit, die Scheinwerfer leuchten. Zuerst beginnen die Tablas, dann setzen die Sitars und zwei weitere gitarrenartige Instrumente ein, eine Flöte und zwei kastenförmige Harmoniums kommen hinzu. Fazel Rahman Nareez singt das patriotische Lied einer unbeantworteten Liebe an sein Land, mit dem er seine ins Exil geflohenen Landsleute zur Rückkehr nach Afghanistan auffordern will. „Meine Hand greift zum Himmel, meine Lippen beten dich an.“ Nareez singt in Dari, dem persischen Dialekt Nordafghanistans. Mit der linken Hand spielt er die Tasten der Harmoniums, mit der rechten bedient er eine Klappe am Instrument, die wie ein Blasebalg Luft in dessen Rückseite führt und so die Töne erzeugt. „Oh, meine Geliebte, dein Platz ist in den Pupillen meiner Augen“, singt Nareez. Schon bald steht ihm der Schweiß auf der Stirn.

Das Konzert wird für die drei Feiertage des islamischen Opferfestes aufgezeichnet. In diesen Tagen bringt Afghanistans einziger Sender jeweils 45 Minuten afghanische Volksmusik, Klassik und Liebeslieder. Die Musik ist eine Mischung aus indischen und persischen Stilen. Nareez ist nicht nur einer der zehn Sänger, die hier nacheinander antreten, sondern er ist auch der Organisator der ganzen Konzertserie. Seit dreißig Jahren arbeitet er bei dem Sender und leitet heute dessen Musikabteilung. „Unter den Taliban durfte ich nur religiöse Lieder produzieren, instrumentelle Begleitung war verboten“, sagt er. „Die Musiker haben ihre Instrumente versteckt, damit sie nicht von den Taliban zerstört werden.“ Die Hälfte des Orchesters trägt keine Vollbärte mehr, womit sich die Musiker schon optisch als Gegner der Fundamentalisten zu erkennen geben.

Nareez selbst hat nur noch einen Schnauzer, dabei wurde er von den Taliban sogar ausgezeichnet. In ihrer Zeit hatte er einhundert religiöse Lieder im Repertoire. Er behauptet, in manchen versteckte zweideutige Botschaften gesungen zu haben. „Viele meiner religiösen Gesänge haben die Taliban nicht richtig verstanden. Das führte dazu, dass die Stücke erst nach zwei- oder dreimaliger Radioübertragung aus dem Programm genommen wurden.“ Seine Vorgesetzten hätten ihn vor größerem Schaden bewahrt.

Seit dem Sturz der Taliban hat er für den Sender bereits zehn Lieder aufgenommen, in denen er Afghanistan und den Frieden besingt. Auch bei Hochzeiten tritt Nareez inzwischen wieder auf. CDs gibt es von ihm noch keine, in Afghanistan sind sie eh nicht verbreitet. Aber vor der Taliban-Zeit nahm er zwei Kassetten auf. „Jetzt möchte ich jungen Leuten die Chance geben, Lieder aufzunehmen. Ich habe inzwischen sogar die Genehmigung dafür“, sagt er. Er denkt an einen Gesangswettbewerb im Radio. Schon in der Vergangenheit hatte sich der Sender um die Förderung der afghanischen Musik verdient gemacht. 1964 stammte die Hälfte der gespielten Musik aus dem Land selbst.

Mit jungen Leuten meint Nareez allerdings nur Männer. Frauen ist es nach wie vor nicht erlaubt, im Radio oder Fernsehen zu singen. „Das kommt vielleicht später“, meint Nareez. Schon unter dem islamistischen Mudschaheddin-Präsidenten Burhanuddin Rabbani hätten Frauen nicht mehr singen dürfen. Allerdings hätten damals die Sängerinnen noch weiter ihr Gehalt bekommen. Heute gibt es laut Nareez keine Musikerinnen in Afghanistan mehr, sie haben unter den Taliban das Land verlassen. „Früher hatten wir eine Musikhochschule, auf der Jungen und Mädchen gemeinsam lernten. Unter den Taliban wurde die Schule geschlossen.“

Von der Interimsregierung fordert Nareez, die Musikhochschule wieder für Mädchen und Jungen zu öffnen. „Wir wollen kein Kabul ohne Musik“, sagt er. Über das beliebte Dari-Programm der BBC, das mehr gehört wird als Radio Afghanistan, hat er die Musiker im Exil aufgefordert, wieder zurückzukehren. Bisher seien aber erst zwei Sänger wieder aus Pakistan zurückgekommen.

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