tellerrand: Besuch vom Ziegenhirt
Osteria No. 1
Vor allem an den Wochenenden ist es schwierig, einen freien Tisch zu finden in der Osteria No. 1. Das Lokal ist beliebt unter den Liebhabern der Gaumenfreuden, die in der italienischen Küche die Wiege der Kochkunst überhaupt und in der Osteria die direkten Nachkommen vermuten.
Ein Blick von der Straße auf die Speisenden erinnert an Szenen Fellinis: Schmuckbehängte Damen zieren sich, Männer ergreifen gestikulierend das Wort, Dauerwellenfrisuren und eine Prise Eitelkeit bereichern die Atmosphäre der weltmännischen Gelassenheit im No. 1. Neben dem guten Geschmack verbindet sich vor allem eines: ein bisschen Geld. Selbst der Kanzler war eines Abends zu Gast. Eigentlich müsste einem der Appetit vergehen.
Doch das passiert nicht. Zwar mangelt es auch der Speisekarte an Bescheidenheit, aber schließlich sind Piero De Vitis und Fabio Angile Italiener – und stolz darauf. Sonst wären sie keine. Also bieten sie zur Vorspeise toskanischen Schafkäse mit Akazienhonig oder Meeresalgen mit Thunfischtartar. Hier wird variiert und kreiert. Austernpilze werden auf Lavastein gegrillt und auf rote Beete gebettet, zum Bachsaibling gesellen sich Haselnüsse, als Nachspeise servieren wir Mascarponemousse mit frischen Waldbeeren aus Chile!
Um Aufmerksamkeit heischt auch das „Wildschaf“. Zufällig war kürzlich ein griechischer Ziegenhirte zu Gast. Neugierig, jedoch die Stirn misstrauisch in Falten geworfen, bestellte er. Er kannte Gämsen, Wildziegen, Heidschnucken etc. Aber ein Wildschaf schien ihm ins Reich der Fabeltiere zu gehören. Und wahrhaft fabelhaft schmeckte es auch, ein wunderbar zartes, rosafarbenes Wildfleisch.
Die Kellnerinnen wussten dem Hirten zu berichten, dass es sich bei dem wilden Tier wahrscheinlich um ein schwarzes Schaf handele. Näheres könne der Wirt sagen. Den wollte der Hirte nicht herbeibemühen, doch plötzlich saß er am Tisch, lachte, malte gewaltige Hörner in die Luft und erzählte, dass diese seltenen Tiere in Italien noch geschützt, in Bayern aber wieder zum Abschuss freigegeben seien. Man nenne sie auch Mufflon. HANS W. KORFMANN
Kreuzbergstr. 71, Tel. 7 86 91 62
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