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Nahverkehr kommt vor Gericht

Schon in wenigen Monaten könnten einige kommunale Verkehrsunternehmen vom Markt gefegt werden. Der Europäische Gerichtshof will die Konkurrenz im Nahverkehr erleichtern. Heute will der Generalanwalt sein Plädoyer halten

von ANNETTE JENSEN

Das Urteil aus Luxemburg kommt, und viele Bürgermeister und kommunale Busunternehmen fürchten es. In den kommenden Monaten wird der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Entscheidung treffen, die den gesamten öffentlichen Nahverkehr in Deutschland umkrempeln könnte. Verhandelt wird über den Vorwurf massiver Wettbewerbsverzerrung: Nur weil die öffentliche Hand ihren Unternehmen im Vorfeld große Summen zusteckt, können sie anschließend ein konkurrenzlos günstiges Angebot machen, klagen die privaten Konkurrenten der öffentlichen Nahverkehrsfirmen. Heute hält der Generalanwalt dazu sein Plädoyer, erfahrungsgemäß werden ihm die Richter am EuGH wohl folgen.

Der Wettbewerb im öffentlichen Nahverkehr läuft nach branchenspezifischen Kriterien ab. Die Kundschaft hat nicht mitzubestimmen. Ihre einzige Möglichkeit, Einfluss auf das Angebot zu nehmen, besteht in der Verweigerung. Und diesen Weg wählen in Deutschland seit vielen Jahren immer mehr Menschen, indem sie aufs Auto umsteigen. So ist der öffentliche Verkehr – ohne Flugzeug – auf einen mageren Marktanteil von 15 Prozent geschrumpft, während über das Auto 80 Prozent des Personentransports abgewickelt werden.

Die Entscheidung treffen im Nahverkehr offiziell die Kommunen und Landkreise. Dem Gesetz nach vergeben sie zwei Arten von Aufträgen. Erstens: „Eigenwirtschaftlicher Verkehr“ bedarf keiner Zuschüsse, weil er sich durch Ticketverkäufe und andere Einnahmen selbst trägt. Wollen mehrere Unternehmen die Bus- oder Straßenbahnlinien bedienen, so wählt die Genehmigungsbehörde den besten Antrag aus. Zweitens: Beim so genannten „gemeinwirtschaftlichen Verkehr“ ist von Anfang an klar, dass er nur mit Zuschüssen funktioniert. Weil aber ältere Menschen nicht immer zu Hause bleiben mögen und auch Dörfler ohne Auto die Möglichkeit haben müssen, in die Stadt zu fahren, subventionieren die Kämmerer solcherlei Betrieb unter dem Stichwort „Daseinsvorsorge“.

Die Kriterien für die Auftragsvergabe sind beim subventionierten Verfahren wesentlich strenger. Zwingend ist dann eine öffentliche Ausschreibung. Darin definieren die zuständigen Behörden, wie das gewünschte Verkehrsangebot aussehen soll. Ob sie die Häufigkeit der Verbindungen festlegen oder vielleicht den Einsatz von Gasbussen fordern, hängt von ihren Prioritäten und den finanziellen Möglichkeiten der Kommune ab. Klar ist jedenfalls: Der günstigste Anbieter, der die Kriterien erfüllt, muss den Zuschlag bekommen.

Die Zahl der öffentlichen Ausschreibungen in Deutschland hält sich jedoch bisher in Grenzen. Der größte Teil der Bus- und Straßenbahnlinien fährt nämlich offiziell „eigenwirtschaftlich“ – die Betreiber werden von der zuständigen Behörde ausgewählt. Dabei sind hier durchaus Zuschüsse im Spiel. Doch die werden mit einem juristischen Kniff – einer extrem weiten Auslegung des Begriffs „Erlöse im handelsrechtlichen Sinne“ – als Einnahmen deklariert. So gehen versteckte Zuschüsse neben „echten“ Einnahmen aus Fahrscheinverkäufen in die Rechnung mit ein, das Unternehmen arbeitet „eigenwirtschaftlich“, eine Ausschreibung ist nicht nötig. Die Genehmigungsbehörden wissen darum und stützen das System, um die stadteigenen Unternehmen zu schützen.

In Stendal aber wollte sich ein kleines Unternehmen diese Praxis nicht gefallen lassen – und bekam vom Oberverwaltungsgericht Magdeburg Recht. Weil aber die Entscheidung grundsätzliche Bedeutung hat, ließen die Richter Revision beim Bundesverwaltungsgericht zu. Dem dortigen Senat war das Eisen offenbar zu heiß. Es sei schon zulässig, das eine oder andere Vergabeverfahren anzuwenden, beschieden die Richter – aber ob das auch EU-konform sei, wollten sie in Luxemburg klären lassen.

Was aber bedeutet es, wenn der EuGH die deutsche Praxis als unvereinbar mit dem Gesetz erklärt? In diesem Fall müssten die Landkreise und Städte sofort anfangen, ihre Praxis umzustellen. Vielerorts existieren bisher aber gar nicht die Voraussetzungen, um überhaupt als richtiger Auftraggeber aufzutreten und die für eine Ausschreibung notwendigen Leistungskriterien angemessen zu benennen. Auch viele ÖPNV-Unternehmen sind in keiner Weise auf Konkurrenz vorbereitet; in einem echten Wettbewerb hätten sie wenig Chancen.

Nicht auszuschließen, dass viele Kommunen panikartig ihre Unternehmen abstoßen würden. Gerade da, wo Städte in den vergangenen Jahren ihre schützende Hand über das eigene Unternehmen gehalten haben, würde die Situation dann umso schwieriger. Doch selbst wenn der EuGH – möglicherweise mit Hinweis auf anstehende Veränderungen der EU-Vorgaben – die deutsche Praxis bestehen lässt, können sich die alten ÖPNV-Betreiber nicht mehr ruhig zurücklehnen. Der Wettbewerb wird kommen. Wenn nicht aus Luxemburg, dann ganz bestimmt wenig später aus Brüssel.

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