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village voicePost-Techno-Familie: Neues aus dem WMF-LabelDer Kampf geht weiter

Der Hall, der Bass, die Zeit, der Raum. Man muss sich beeilen, die Abstände zwischen den Beats werden kürzer, nochmal auf der Tanzfläche vorbeischauen oder doch lieber Beck’s? Erinnerung funktioniert wie ein Aufputschmittel, schiebt so schnell Bilder übereinander, dass der Sound gar nicht mithalten kann. Im nächsten Augenblick erkennt man dann schon keine Unterschiede mehr von dem was läuft an Musik. Erst recht nicht bei alten Tracks von 1997, die man an Orten gehört hat, die nun Erinnerung sind. Init-Bar, Kunst & Technik, 103, Cookies, später Dirt. Überall dort werden in der Nacht irgendwann Electro-Sachen von Dynamo im Set aufgetaucht sein, um den glücklichen Moment zu beschleunigen. Kalt und geil, einfach drübergehen, kein Break nirgends, die Beatbox marschiert, wieder und wieder, bis sie an die Wände knallt.

Das setzt sich auf der jetzt erschienenen „Außen vor“-CD von Dynamo auch fünf Jahre später fort. Der Rückblick ist angemessen, von retro keine Spur, der Kampf geht weiter. Wer heute „aufenthalt 1“ hört, weiß, warum die EP zu dem Zeitpunkt richtig war, als keiner etwas mit dem Namen hätte anfangen können. Ein Projekt aus Berlin eben, es wird Vergangenheit dokumentiert, „minimalistische Sound-Ästhetik“, wie die Plattenfirma schreibt und damit wohl meint: Dark ist witzig, aber auch anstrengend, wenn man sich darauf einlässt. Die vollständige „aufenthalt“-Schlaufe dauert an die 24 Minuten, hier sind es 18:53 Minuten, weil „aufenthalt 4“ fehlt. Aber was nützen Namen, Zahlen, Zeiten? Ohnehin ist man nach drei, vier Takten eingeschworen, auf Linie gebracht mit dem Beat. Draußen tropft Schweiß in den dreckig vermatschten Schnee, so melancholisch hat damals Berlin ausgesehen, bei 144 Beats per minute.

Neuanfang ist dagegen ein Wort, das sich alle paar Jahre in einer der Verlautbarungen des WMF findet, wenn der Club wieder einmal umzieht. Und von jeder neuen Location wünscht sich WMF-Betreiber Gerriet Schulz mehr Spirit, weniger Caipirinha-Sause für den Dienstleistungssektor und vor allem: nicht immer bloß Geschäft. Weil aber das Publikum selten Diskursdisko, sondern meistens Party will, gibt es das hauseigene Label, das die Platten produziert, die so klingen, wie das WMF sich selbst sieht – vertrackt, verpuzzelt, kunstverliebt. Das gilt im Besonderen für die „sestrichka“-CD von Nikakoi. Exotischer Name, ferne Länder: Schön, dass man auch in Georgien bei Pop an Madonna denkt – und doch lieber Akkordeongepolke als Samplefolie für Breakbeats benutzt.

Entsprechend locker findet sich der 1972 in Tiflis geborene Nika Machaidze in allen Spielarten zurecht, die der Elektronikmarkt hergibt. Mal haucht eine Frau namens Tusia Beridze ihr „bratishka“ – Brüderchen – sehr low-fi ins Echogerät, mal wird für „mtvare“ häppchenweise Folklore am Computer programmiert, bis eine Melodie für Aero-Pioniere herauskommt. Dabei ist die Mischung aus Ambient-Knistern, House und Downtempo auf „sestrichka“ – Schwesterchen – in so ziemlich jedem Kontext anschlussfähig: von Fashion Shows bis zu Werbejingles, selbst für das Stück „Der Fluss“ von Botho Strauss hat Machaidze den Soundtrack geschrieben. Diese für die Mikrodifferenzen der Post-Techno-Bewegung ungewöhnliche Offenheit scheint man nicht nur in der WMF-Familie zu schätzen, Nikakoi ist bereits fest fürs nächste Sonar-Festival in Barcelona gebucht. Falls er von dort in die Viva-Rotation durchstartet, wird sich Schulz neben all dem Club-Mainstream auch um die Wohlfühlpolitik seines Mini-Labels Sorgen machen müssen. Dann ist die Ruhe nach dem Feierabend dahin. HARALD FRICKE

Dynamo: Außen vor (DIN / EFA)Nikakoi: sestrichka (WMF Rec. / EFA)

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