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Lebensmittel

Ein Experte für Wasserversorgung erzählt

von GABRIELE GOETTLE

Hans Sailer, Senatsrat, Dipl. Ing., Direktor der Wiener Wasserwerke. 1950–1954 Besuch d. Volksschule u. 1954–1962 d. Realgymnasiums i. Klosterneuburg/Österreich. 1962 Matura. 1962–1963 Dienst b. Bundesheer. 1963 Studium d. Bauingenieurswesens a. d. TU Wien. Diverse Arbeitsaufenthalte u. a. Schweden u. Schweiz. 1978 Graduierung z. Dipl. Ing. 1978–1980 Ingenieur i. e. Konstruktionsunternehmen, Schwerpunkt Statik u. Brückenbau. 1980 Eintritt i. d. Städt. Wiener Wasserwerke. 1980–1988 Referent f. Beton u. Hochbau, m. Schwerpunkt „Wasser-Reservoir-Planung u. Ausführung“ f. d. Wasserversorgung. 1988–1999 Betriebsleiter d. 1. Wiener Hochquellleitung. 1999 Direktor, resp. Betriebsvorstand d. Wiener Wasserwerke. Verf. div. Abhandlungen z. Thema Wasserversorgung. Versch. nationale u. internationale Tätigkeiten, u. a.: Präsident d. Internationalen Arbeitsgemeinschaft d. Wasserwerke/i. Donau-Einzugsgebiet. Seit 1990 Mitarbeit i. „Ständigen Ausschuss für Statistik u. Wirtschaft“ i. Rahmen d. IWSA (International Water Supply Association), seit 1992 Vertreter i. Ausschuss. Seit 1991 österr. Delegierter im CEN (European Standardization)-Komitee „Wasser-Reservoirs“. Mitarbeit a. d. „Österreichischen Vereinigung für d. Gas- u. Wasserfach“ ÖVGW: Seit 1991 verantw. Herausgeber d. jährl. „Betriebsergebnisse d. Wasserwerke Österreichs“, Vortragender i. Rahmen d. Schulung f. Wassermeister. Hans Sailer wurde a. 13. 12. 1944 in Klosterneuburg/Österreich geboren. Er ist in 2. Ehe verheiratet u. hat eine Tochter a. 1. Ehe.

Der Wasserverbrauch stieg in den Industrieländern in den vergangenen 70 Jahren steil an. 1930 wurden in Europa ca. 80 Liter pro Tag und Person verbraucht, heute sind es 300 bis 600 Liter. Weltweit fehlt es für 1,2 Milliarden Menschen an sauberem Wasser, was Krankheit und Tod von vielen Millionen Jahr für Jahr zur Folge hat. Wasser ist ein hoch profitables Wirtschaftsgut, die Zuwachsraten liegen bei 10 Prozent und mehr. International wird zügig privatisiert, und auch die öffentlichen Wasserversorgungsunternehmen der Industrieländer werden Zug um Zug von ein paar weltweit agierenden Großkonzernen aufgekauft. Auch in Deutschland werden pro Woche ein bis zwei Stadtwerke von der „öffentlichen Hand“ verkauft und somit dem Besitz des Gemeinwesens entzogen. In vielen Städten fließt bereits „privates“ Wasser aus den Hähnen.

Diesbezüglich ist in Wien noch alles in alter Ordnung und geradezu paradiesisch beschaffen. Die Wiener Wasserwerke versorgen die Bürger mit Quellwasser, das erfrischend kühl mit festem Druck aus den Leitungen sprudelt und so gut ist, dass es sogar in den Kaffeehäusern zum „Kleinen Braunen“ ausgeschenkt wird. Dieses Labsal wird über zwei altehrwürdige Fernleitungen, die Wiener Hochquellleitungen (die I. von 1873, die II. von 1910), aus den Alpen über zahlreiche Aquädukte nach Wien gelenkt. Dabei durchfließt es die Leitungen in freiem Gefälle über 100 bzw. 200 Kilometer mit der Geschwindigkeit eines Joggers. Es wird in Wien in zwei Wasserbehälter geleitet, von wo es dann nach dem Prinzip der „kommunizierenden Röhren“ auf die tiefer gelegenen Reservoirs verteilt wird und von da, immer noch mit dem eigenen Druck, in die Leitungen der Häuser.

Hans Sailer ist Herr über dieses kunstvoll verflochtene System und bewacht es wie der Drache den Schatz, feurig gegen jedwede neoliberale Privatisierungsinteressenten. Er empfängt uns spontan, trotz seiner Terminfülle und Erkältung. Das Wiener Wasserwerk residiert im 6. Bezirk, etwas oberhalb der linken Wienzeile, in einem schäbigen Ziegelgebäude mit modernisiertem Inneren. Im Chefbüro, hinter der gepolsterten Doppeltür, beherrscht ein über Eck gehender Schreibtisch den Raum und eine beleuchtete Wandskulptur mit fließendem Wasser.

Kaffee wird gebracht, gelassen betrachtet der Direktor mit uns einen Videofilm über die Wiener Wasserversorgung, raucht, putzt sich unentwegt die Nase, spult das Band am Ende zurück, „damit nicht ein anderer sich beim nächsten Mal ärgert …“ Er sagt zufrieden: „Wir arbeiten zur Zeit ungefähr 120 Prozent kostendeckend mit den Wasserpreisen in Wien. Der Preis ist immer noch sehr günstig mit 18 Schilling (1,31 Euro), da liegen wir weit unter anderen Städten. In Berlin kosten Wasser und Abwasser ca. 3,78 Euro der Kubikmeter, und bei uns hier kostet beides zusammen 2,63 Euro/m[3]. Und auch was den Kalkgehalt angeht, stehen wir ganz gut da, zwischen 9 und 12 deutschen Härtegraden, also mittelweich … Berlin hat so zwischen 17 und 20, das liegt in der Natur der Sache, denn Grundwasser ist per se härter, weil’s im Untergrund mehr Zeit hat, sich das Kalzium anzueignen. Also wir versorgen die Bevölkerung ja zu 95–97 Prozent mit frischem Quellwasser, den Rest liefern die diversen Grundwasserwerke, die wir als Sicherheitsreserve benötigen, falls eine der Hochquellenleitungen mal ausfällt oder die Leistung der Quellen eventuell mal abfällt. Aber das sind sehr ergiebige Kalk-Karstquellen – die Leute haben das schon sehr gut erkannt, damals –, wir haben keinen, von den normalen klimatischen Schwankungen abweichenden Rückgang. Und die Kläfferquelle – das war ja im Videofilm sehr schön zu sehen –, die bewegt sich weit über dem, was wir dort entnehmen. Wir dürfen maximal 2.000 Liter entnehmen, die Quelle bewegt sich aber bei 3.000 bis 10.000 Litern pro Sekunde. Der Hauptteil speist den Fluss, da gibt es strikte Auflagen vom Wasserrecht her, die wurden schon damals gemacht, damit das ökologische System der Salza nicht gestört wird. Darauf achten wir besonders.

Im Ergebnis haben wir – das kann man sicherlich behaupten – vorzügliches Wasser. Wir sind die einzige Großstadt, die natives, unaufbereitetes Quellwasser aus einem absoluten Naturschutzgebiet bezieht. Also dieses ganze Schutzgebiet der Quellleitungen hat mit 800 km[2]ungefähr das Doppelte von der Fläche Wiens. Davon gehören 320 km[2]der Stadt. Also alles, was im Umfeld der Quellen ist, gehört der Stadt Wien. Für den Privatbesitz gelten sehr strenge Richtlinien, die wir natürlich selbst auch erfüllen. Die Stadt war von Anfang an darauf bedacht, sich diese umfangreiche Kontrolle zu sichern. Und nun schwebt das im Raume … Ich halte ja dauernd Vorträge gegen die Privatisierung, mit der diese strengen Qualitätsstandards verloren gingen für den Bürger. Als Beispiel: Wir haben einen eigenen Forstbetrieb da draußen, der hat als oberste Maxime nicht Gewinnmaximierung, also Holzproduktion, sondern Quellschutz. Keine Monokulturen, keine schweren Maschinen, Mischwald mit standortgerechter Bepflanzung. Die Mehrkosten werden in den Wasserpreis eingerechnet, das sind derzeit nicht ganz siebeneinhalb Cent pro m[3]. Bei uns gibt es zur Zeit eindeutige politische Aussagen zur Wasserversorgung. Es ist eine Novelle zum Wiener Wasserversorgungsgesetz verabschiedet worden, sie sieht vor, dass jeglicher Verkauf von Wasserleitungsanlagen einer 2/3-Mehrheit im Gemeinderat bedarf – das ist an sich schon ein Riegel.“ Herr Sailer schnäuzt sich, raucht und wirkt erregt.

Privatisierung ist immer eine reine Geldbeschaffungsaktion, das hat mit Betriebswirtschaft als solcher gar nix zu tun, in Berlin war’s ja auch so, die haben 3,1 Milliarden oder so für diese 40 Prozent … das ist ein Konsortium aus RWE, Generale des Eaux und irgendeiner Bank noch dazu … aber das Geld ist ja bereits weg! In Wien ist das nicht angesagt. Ich bin der Meinung, so ein Betrieb, wenn der gut und kostendeckend arbeitet, dann hat das einen Stellenwert für die Gemeinde als solche, die man ja stärken soll und nicht schwächen. Es hat sich gerade im größten Liberalismus – und der war im 19. Jahrhundert – herauskristallisiert, dass gewisse Bereiche eigentlich zum Staat gehören sollen, weil man dort die Konkurrenz der kapitalistischen Marktwirtschaft nicht zulassen möchte. In Deutschland sagt man Daseinsfürsorge – das ist ein höchst interessantes Wort, auch wenn’s ein hässliches Kunstwort ist, es trifft was. Das muss der Staat dem Bürger garantieren können, und zwar was die Nachhaltigkeit betrifft. Aber die neoliberalen Bestrebungen zielen aufs Gegenteil. Na ja, das ist eine Ideologiefrage natürlich … wir leben nun mal momentan in der Ideologie des Neoliberalismus … das ist nun einmal so! Ich meine, die sind von ihrer Ideologie geprägt, genauso …“, er lacht, „wie ich von der 68er-Ideologie geprägt war. Sie demontieren den Staat“, er lacht, „aber eben anders als von den 68ern erhofft. Das wird der Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts, letztlich, der nur mehr irgendwelche Polizeifunktionen … Ruhe, Ordnung, Sicherheit des Privateigentums als seine Aufgabe betrachtet. Aber interessanterweise – und das ist eins von zwei Hauptargumenten in Wien – waren unsere kommunalen Betriebe ja größtenteils in privater Hand im 19. Jahrhundert. Und es hat große Diskussionen gegeben um Elektrizitäts- und Gaswerke – die Wasserwerke waren ja immer schon kommunal – die sind dann, ebenso wie das Bestattungswesen, unter dem Bürgermeister Lueger kommunalisiert worden. Dieser Mann, der ja als rechts stehend betrachtet werden muss, hat gefunden, dass solche Basisfunktionen nicht von irgendwelchen ausländischen Konzernen gelenkt werden sollten, sondern in die Hand der Kommune gehören. Also nicht die Sozialisten haben’s verstaatlicht, sondern der Bürgermeister Lueger war derjenige. Dass so einflussreiche Betriebe, an denen das Gemeinwohl einer gesamten Stadt hängt, zweifellos in die politische Entscheidung der Stadt gehören, war zumindest eine richtige Überlegung.

Richtig war auch 1830 die Entscheidung des Kaisers für die Hochquellleitung. Es hatte damals Vorschläge gegeben, ufernahes Donauwasser zu gewinnen, die Engländer haben das forciert, sie wollten ja ihre großen Dampfmaschinen verkaufen. Das war damals der Stand der Technik. Aber da hat’s zu der Zeit einen Professor gegeben an der TU Wien, den Eduard Sueß, Geologe und Paläontologe – das war einer von diesen wunderbaren jüdischen Genies –, der hat vehement diese Quellwasserversorgung vertreten und hat nachgewiesen, das wäre die nachhaltige Lösung für Wien: kein Kurzschluss mit Fäkalien, kein Typhus, keine Cholera, keine Qualitätsprobleme. Es gab schwere Angriffe, weil’s so teuer war, andere sagten, es kann nicht funktionieren, über so weite Strecken das Wasser zu holen. Aber die Wiener Ärzteschaft war auch dafür, und letztlich hat er dann den Wiener Bürgermeister und den Kaiser überzeugt. Und das Verfahren zur Ausschreibung dieses Bauwerkes das war damals ein europaweites. So modern waren wir. Der Bestbieter war ein gewisser Herr Gabrieli, ein italienischer Bauunternehmer mit Firmensitz in London. Der hat es dann in drei Jahren gebaut. Am 24. Oktober 1873 hat der Kaiser am Schwarzenbergplatz in Wien höchstpersönlich den Hochstrahlbrunnen aufgedreht, ein Glas Wasser getrunken und damit dokumentiert, dass das Wasser nun in Wien angekommen und gut ist. Sonst hätten wir in Wien, genauso wie andere Städte, heute auch irgendein mehr oder weniger gutes Uferfiltrat. Und dabei finde ich interessant – das wäre sicher auch mal ein Thema für sich –, wie sich solche Einzelentscheidungen eigentlich auf lange lange Zeit noch nachhaltig positiv auswirken – oder auch negativ, wenn man Pech hat … weil so ein Bauwerk wie die Hochquellleitung wär heute nimmermehr möglich …“

Herr Sailer geht hinüber zum Schreibtisch, gibt uns eine Mappe und setzt sich vor den Computer. „Hier haben Sie erst mal einige Informationen, und bis Samstag stelle ich Ihnen noch was zusammen, meine wesentlichen Vorträge kopiere ich Ihnen auf CD-ROM, vielleicht können Sie was davon gebrauchen … ich bin ja mit allem ausgerüstet, bin ein Technik-Freak, wie Sie vielleicht bemerkt haben … und das hier wollte ich Ihnen noch eben zeigen.“ Er deutet auf den Bildschirm, eine statistische Grafik des Wasserverbrauches ist zu sehen, „da ist ein Anstieg in den 20er-Jahren zu erkennen … stärkerer Verbrauch auch in der Industrie und da, schaun Sie, da kommt die Weltwirtschaftskrise und dann brauchst nix mehr! Und dann das hier, das ist 1945 … und diese Bewegungen hier, die kommen statistisch immer wieder, wenn es sehr heiße Jahre gibt. Das alles sieht man am Wasserverbrauch, es ist sehr interessant.“ Er erhebt sich und sagt: „So! Jetzt muss ich aber, weil sonst komm ich z’spät.“

Drei Tage später fahren wir mit der Südbahn hinaus nach Mödling. Das Städtchen liegt am Ostrand des Wienerwaldes, etwa 20 Kilometer von Wien entfernt. Es war einst Villenort und Sommerfrische, hat einen alten Stadtkern und ein großes Aquädukt. Herr Direktor Sailer holt uns vom Bahnhof ab, er trägt Jeans und ein Hemd mit Brusttaschen. Nach kurzer Fahrt erreichen wir das Aquädukt. Es überspannt mit sieben hohen Bogen ein schmales Tal und ist wegen Reparaturarbeiten am Ziegelmauerwerk derzeit mit Netzen verhüllt. „Gehen wir oben entlang, da haben Sie einen schönen Blick über Mödling“, schlägt Herr Sailer vor und ruft per Handy den zuständigen Mann herbei, der uns durch mehrere Türen aufs gesicherte Gebäude lässt. In 27 Meter Höhe spazieren wir dahin. Überall liegen Nussschalen. Die Krähen benutzen das Aquädukt als Nussknacker, lassen von hoch oben die Nüsse auf die Betonabdeckung fallen und essen sie dann in Ruhe auf, erfahren wir. „Insgesamt gibt es 10 Aquädukte auf der ersten Hochquellwasserleitung – dieses ist das höchste –, auf der zweiten gibt’s sogar mehr als hundert. Und das hier ist also 128 Jahre alt und wir restaurieren da jetzt ganz nachhaltig, mit extra angefertigten Ziegeln. Das ist alles sehr stabil, also wenn da einer einen Sprengstoff zum Beispiel dranhängt, dann reißt der vielleicht ein Loch, aber das tut nicht viel. Außerdem haben wir ja ein eigenes Sicherheits- und Alarmsystem, aber das hat eigentlich weniger was mit Eindringlingen zu tun, das verdankt sich eher ein bisschen Tschernobyl. Wir haben die Möglichkeit, zentral zu steuern und automatisch zu messen, ob’s signifikante Veränderungen gibt. Und im Katastrophenfall, wenn die Radioaktivität ein schädliches Maß erreichen würde, dann lass ich das Wasser ab, bevor es Wien erreicht, ich leite es weg und gehe mit den Grundwasserwerken in Betrieb, denn ins Grundwasser gelangt die Kontamination erst wesentlich später, und bis dahin ist dann die Gefahr für den Karst wieder weg, das geht relativ schnell … außer es ist ein Mega-Gau … So, und jetzt fahren wir zu mir, es ist gleich dort drüben.“

Das Haus von Herrn Sailer ist Teil eines Ensembles weißer Häuser, das im hellen Sonnenlicht ein wenig an eine französische Ferienanlage erinnert. Es gibt eine eigene Tiefgarage und einen kleinen Garten, in dem ein Hündchen namens Felix herumspringt. Im Wohnzimmer stehen einladend viele Sitzgelegenheiten. Die Möblierung ist modern, an der Wand hängen einige kleine Bilder, das Kuppeldach der Kirche am Steinhof von Wagner, ein Wasserhaus am Donaukanal und eine Winterlandschaft. Unter dem TV Bücher zum Thema Kochen und über Katzen. Einige Fotos der Kinder werden präsentiert und Puppen mit Porzellanköpfen. „Eine Leidenschaft meiner Frau“, sagt Herr Sailer, bittet uns Platz zu nehmen und stellt Gläser und kalte Getränke auf den Tisch. Auf unsere Frage, was denn eigentlich ein Senatsrat sei, sagt er lächelnd: „Also es gibt den Senatsrat, das bin ich, das entspricht dem Hofrat, dann gibt’s noch den vortragenden Hofrat, das entspricht dem Obersenatsrat, das ist das, wo man dann oben anstößt, höher geht’s nimmer …“ die Gattin tritt ein, in Begleitung der Hauskatze, begrüßt uns herzlich und setzt sich zu uns. Er macht uns miteinander bekannt und sagt mit liebevollem Blick auf die Frau: „Sie ist Schuldirektorin. Wir sind seit 1980 mehr oder weniger zusammen … immer mehr werdend, wenn man’s so sagen kann.“ Sie lacht zustimmend und erwidert seinen Blick. „Also diese Titel stammen alle noch aus der Monarchie und werden eben noch verwendet beim Bund teilweise, die Dienstklasse 8 und 9 sind beide Hofräte sozusagen, 9 würde dem Sektionschef entsprechen. Der Sektionschef ist der eigentliche Obersenatsrat, jetzt hab ich’s! Das ist nicht so einfach. Ich selbst bin aus keiner Beamtenfamilie. Ich stamme aus einer Familie von Straßenwärtern und Handwerkern, also väterlicherseits. Bei meiner Familie stammen alle aus dem Waldviertel. Da waren die Möglichkeiten nicht sehr groß … Mein Vater hat Binder gelernt, dann Fassbinder. Der war noch auf der Wanderschaft, er ist Jahrgang 1906. Fünf Jahre hat er in Deutschland gearbeitet, als Bindermeister und Weinküfer.“ Die Frau wirft ein: „Fassmacher …“

Herr Sailer dankt und fährt fort: „1933 ist er zurückgekommen nach Österreich und war dann im Stift Klosterneuburg Fassbinder und Kellermeister, das ist ja eines der ganz großen, reichen Stifte der Augustiner Chorherren. Meine Eltern haben 1943 geheiratet, da bin dann ich entstanden. Ich habe meinen Vater erst am 3. Jänner 1950 kennen gelernt. Ich kann mich noch erinnern, wie wir ihn abgeholt haben auf dem Südbahnhof. Dort kamen die Kriegsheimkehrer aus Sibirien an. Ich war eigentlich indifferent, bin aufgewachsen in einer reinen Damenriege, mir fehlte nichts. Der Südbahnhof war zerbombt.“ Herr Sailer bläst den Rauch zur Decke. „Aus dem Zug sind lauter Russen ausgestiegen und über die Schuttberge uns entgegengekommen. Einer von den Russen war dann mein Vater, g’schoren, ganz mager, die Jacke war eine gesteppte, graue Wattejacke. Aber die Mutter hat ihn gleich erkannt. Wir sind dann im D-Wagen wieder zurückgefahren und ich hab mir denkt, gut, wenn die Mutter das sagt … der Russ ist also mein Vater. Vor fünf Jahren ist er gestorben. Meine Mutter lebt noch, sie ist 84, sie wohnt noch im Stift. Mein Vater hatte ja seine Dienstwohnung im Kloster drinnen … in diesem Teil aus dem 16. Jahrhundert, dort wohnt sie und versorgt sich noch selbst. Ja, und ich war dann der Erste in der Familie, der mehr als eine achtklassige Volksschule g’habt hat, der Matura g’macht hat. Das war damals ja nicht so üblich in diesen Kreisen. Schuld war auch diese klösterliche Atmosphäre. Die Brüder haben immer g’schaut, wenn einer gut war in der Schule, dass der Abitur macht. Er könnte ja dann Theologie studieren. Aber als ich fertig war, hab ich überhaupt nicht gewusst, was ich tun soll. So bin ich ein Jahr zum Bundesheer gegangen und hab dort ein paar Leute getroffen, die Bauingenieur studiert haben an der TU Wien. Da dachte ich, studier ich auch Bauingenieur, da kenn ich wenigstens schon wen. Das war wirklich mein Motiv. Na ja, das war dann die Zeit, da hat man sich mehr auch um andere Sachen gekümmert, nicht so ums Studium. 1964 bin ich zum ersten Mal nach Schweden gefahren, arbeiten, in einem riesigen Stahlwerk. Im Akkord haben wir Eisenstaub abgefüllt – das wurde verwendet für Sternspritzer zu Weihnachten und für die Schweißelektroden – es war irrsinnig gesundheitsschädlich, ich hab noch monatelang schwarz gespuckt hinterher, aber ich habe dort so viel Geld verdient, dass ich den Rest der Zeit locker leben konnte. Dann war ich 1967 in der französischen Schweiz, in der Nähe von Genf in einer Holzfabrik habe ich einen Teil der Maschinen gewartet, dort habe ich dann auch zwangsweise mein schlechtes Französisch ein bisschen verbessert …“ „Nein“, sagt die Frau, „das ist nicht richtig, er spricht Englisch und Französisch a) fluently und b) mit Leidenschaft.“

Herr Sailer winkt ab: „Na ja, es geht. Jedenfalls hab ich mir damals gedacht, solang ich das hinausziehn kann mit der bürgerlichen Existenz … und hab ein lustiges 68er-Leben geführt. Wir haben viel diskutiert. Heute findet man die 68er ja in den merkwürdigsten Positionen … entweder ganz oben oder ganz unten … Ich hab dann diese Prüfung, das Staatsexamen, am Ende doch noch gemacht, im 20. Semester, nachdem ich sieben Jahre in verschiedenen Betrieben gearbeitet hatte. Ja, das war eine sehr harte Geschichte, aber ich hab’s gerade noch geschafft, denn meine Tochter war inzwischen fünf oder sechs. Ich hatte 1970 ja geheiratet, das erste Mal, 1994 zum zweiten Mal.“ Die Gattin schaut ihn liebevoll an, mit einem Anflug von Stolz. „Na ja, dann habe ich mich eines Tages beworben bei der Stadt Wien, ich hatte ja in der Staatsprüfung etwas zu Kläranlagen gemacht, und nach einer Weile haben sie mir zurückgeschrieben, Kläranlagen haben’s nix, aber beim Wasserwerk wär was frei für Stahlbetonbau. Ja, das hab ich dann bis 1989 neun Jahre lang g’macht, dann war ich zehn Jahre Leiter der Außenstrecke, also für das, was ich am Mittwoch Ihnen beschrieben habe, das ganze Quellgebiet, die Bauten, die Leitungen. Und seit … zweieinhalb Jahre ist das jetzt her, bin ich also der so genannte Betriebsvorstand, wie das bei uns heißt.“ Die Gattin sagt mit Nachdruck: „Der Weg nach oben war ihm seelisch z’wider!“ Herr Sailer raucht heftig: „Na ja, ich hab’s nicht so angestrebt, ich hab einfach viel Glück gehabt, muss ich wirklich sagen. Wie ich da zum Wasserwerk gekommen bin damals, da haben sie mir relativ viel Vordienstzeiten angerechnet, das ist damals noch gegangen – ich war ja ein Fall, der im Dienstrecht nicht so vorgesehen ist – ich hab fürs Studium fünf Jahre angerechnet bekommen und für den Rest, was ich quasi ‚studiert‘ hab, da hat man gesagt, das kriegt er zwar nicht als A-Laufbahn angerechnet, aber als Maturantenlaufbahn bei der Gemeinde Wien, und so hab ich dann relativ viel Vordienstzeiten g’habt. Und nach zwei, drei Jahren bin ich Baurat geworden. Das hat mein Vater noch erlebt, wie ich Baurat worden bin. Da war er unheimlich stolz, denn es war schon schwer für ihn, dass ich so lange Zeit mich nicht eingeklinkt habe … meine Tochter dagegen, sie hat Architektur studiert und ist auch im Dienste der Stadt Wien, die hat sich gleich ins bürgerliche Leben eingeklinkt … weil momentan geht das mit dem Leben von damals … das funktioniert nimmermehr so ganz.

Es ist interessant, wie schnell eigentlich das gehen kann, dass innerhalb von 1 1/2 Generationen sich die soziale Lage total umdreht … meine Tochter hat ganz selbstverständlich studiert, und ihr Vater, der ist irgendwas. Und förderlich dafür waren die 60er-Jahre, das Durchbrechen der Gesellschaft, die Freizügigkeit … auch wenn man von unten kam …“ Die Gattin sagt: „Wir konnten alles werden …“ Beide rauchen … pff … „Ich sage immer“, fährt Herr Sailer fort, „unsere Generation, die 68er, sind die eigentlichen Kriegsgewinnler. Uns hat es nur ganz am Rande erwischt. Anfangs gab’s nur einmal in der Woche Fleisch, aber dann ging’s bergauf, permanent. Und wir haben dann gesagt, alles ist machbar, die Zwänge gehören noch weiter aufgehoben … Und heut haben wir eine Gegenwende, wo am liebsten sogleich alles verboten wird, was nicht effizient ist. So radikal wie früher. Also bei uns in Österreich allerdings, gab’s keine radikalen Bewegungen. Wir haben diskutiert, geraucht. Die Welt verbessert haben wir nur theoretisch. Das Radikale, Kompromisslose in Deutschland, das war uns zu dogmatisch, das war einfach deutsch. Besonders ich, als Arbeiterkind, fand das lächerlich, dass so bürgerliche Kinder die Arbeiter befreien wollen. Man hat hier die Meinhof bewundert, aber es ist dann praktisch ins Sektiererische gegangen und hat zu einem Bruch geführt, weil letztlich hat man jetzt dasselbe Muster verfolgt wie die, die man bekämpfen wollte, das hat den Unterschied dann doch verwischt für mich. Das wäre hier nicht gegangen in Österreich.

Aber andererseits, das ist interessant, waren die Österreicher im Faschismus wieder die Schärferen. Die Nationalen, Ende des 19. Jahrhunderts, waren die eigentlichen Ideologiegeber für den Nationalsozialismus … die Deutschen haben das in der Form nie gehabt … auch nicht diesen Antisemitismus, den’s bei uns in der Monarchie gegeben hat. Diese ganze Schönerer-Ideologie da, vom 19. Jahrhundert, wenn man das heut liest, das war der Stürmer in Reinkultur; aber schon 1890! Das war die ideologische Basis von Hitler, der österreichische Antisemitismus. Denn die Deutschen haben diesen ideolgischen Antisemitismus, wie ihn Hitler gepredigt hat, in der Form gar nicht gekannt, die kannten nur den ‚gewöhnlichen Antisemitismus‘, der bis ins Mittelalter zurückreicht, den es in ganz Europa gab. Aber diese Ideologie mit den Schädlingen, die ausgemerzt gehören, mit den Ariern, mit der Blutmystik, das ist österreichisch … und die Deutschen haben’s dann mit Gründlichkeit und System … Bei uns wär der Hitler vielleicht nie aus dem Obdachlosenasyl rausgekommen, oder doch, und er wär irgendwann Oberamtsrat geworden … Na im Ernst, man weiß ja oft nicht, was aus einem wird. Schaun Sie, was mich betrifft, wenn man das jetzt extrem betrachtet, wenn man meinen eigenen Lebensweg nähme, die Phase zwischen 25 und 34 Jahren. Wär da irgendwas passiert, wär ich aus der Bahn geworfen worden, hätt ich das Studium nicht fertig gemacht … man hätte sich vorstellen können, dass ein Typ wie ich dann irgendwann auch mal ganz unten gelandet wäre, als Alkoholiker, als Sandler … kein Problem.“ Er lacht und fragt: „Apropos, wollen’S vielleicht ein Glas Wein trinken?“ und bringt eine Flasche und Gläser. „Das ist eine Sonderabfüllung von einem Freund, ein Riesling Kabinett, aus Nußberg, sehr gut.“ Er schenkt ein, wir stoßen an, sagen „zum Wohl“. Herr Sailer raucht und sagt nach einem Moment der Stille: „Irgendwann einmal, in Klosterneuburg noch, da war ich bei der Sozialistischen Partei tätig, und es hat einer, den ich von früher gut kannte, einen Vortrag gehalten. Er war damals Sekretär eines Ministers, heute ist er noch weiter oben … Wir waren nachher beim Heurigen g’sessen, waren per Du und irgendwann, nach zwei Vierteln, hab ich gesagt, du, jetzt erklär mir das mal, wie siehst du das eigentlich, du warst doch auch mal so ein schwer links stehender Mensch! Nächtelang, jahrelang haben wir über genau das diskutiert. Jetzt sitzt du da, wir trinken was, und draußen steht der Chauffeur und wartet mit dem Mercedes, dass er dich heimführt. Und er hat’s zugegeben, ja, ich bin mir dessen bewusst, dass das eigentlich das Gegenteil von dem ist, letztlich, was wir mal wollten … aber wenn man was bewegen will, dann muss man sich einklinken … hat er gesagt. Nur, bewegt denn überhaupt noch einer was??! Das ist das Problem.“

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