schwarze taz: Das mythische und das reale New York: ein Erinnerungsbuch und ein Roman von Jerome Charyn
Was man sich über den Mafioso Fatso Levine erzählt
Erinnerung hilft dem Menschen, Ereignisse zu ordnen, ihnen eine Logik zu geben. Sich erinnern heißt erzählen. Aber je mehr Erzählen bedeutet, unorganisierte Ereignisse zu organisieren, desto mehr wird Erzählen zum Lügen. Ohne Lügen wäre Erzählen nicht möglich. Wo bleibt die Wahrheit?
In seiner zweiten autobiografischen Erzählung „Der schwarze Schwan“ berichtet der New Yorker Autor Jerome Charyn ein weiteres Mal von seiner Jugend unter Mafiosi. Charyn wuchs in den 40er-Jahren als Sohn weißrussisch-jüdischer Einwanderer in der Bronx auf, zu einer Zeit, als Meyer-Lansky die Straßen regierte. Seine Mutter arbeitete gelegentlich als Kartengeberin in Nachtklubs, und der junge Jerome trieb sich in zweifelhaften Spelunken herum und brachte es bis zum Schutzgelderpresser. Später wurde aus Jerome ein avantgardistischer Kriminalschriftsteller, und der fabuliert seit dem 1974 erschienenen Polizeithriller „Blue Eyes“ über ein mythisches New York, in dem sein Held Isaac Sidel vom Detective Inspector zum Bürgermeister aufsteigt.
Liest man den Krimi „Abrechnung in Little Odessa“ parallel zu Charyns Erinnerungsbuch, stellt man fest, dass beide Bücher sich ähneln. „Der schwarze Schwan“ berichtet von einer Welt, in der Fiktionen genauso wichtig sind wie Fakten. Was man sich über einen Mann erzählt, zum Beispiel den Mafioso Fatso Levine und seine Heldentaten im Krieg, ist wichtiger als das, was der fette, müde Hinterzimmer-Strippenzieher wirklich darstellt. Und was der kleine Jerome im Kino gesehen hat, zum Beispiel den Bibel-Schmachtfetzen „Samson and Delilah“ von Cecil B. DeMille, bekommt im wahren Leben eine Bedeutung, weil der Junge sich die Welt begreifbar macht, indem er Personen mythische Qualitäten zuschreibt. So wird ein schwuler Schmalspurganove zu seiner Delilah und eine Bewährungshelferin für Schulschwänzer zu seiner persönlichen „Milady“ de Winter, als sei er selbst ein Musketier aus einer Dumas-Verfilmung.
Auf diese Weise ordnet der heranwachsende Jerome die Welt. Der Kriminalschriftsteller Charyn erfindet Mythen, um den irrwitzigen Moloch New York in den Griff zu bekommen. Trotz stilistischer Unterschiede behandeln beide Bücher das gleiche Thema: Es ist ein Reigen zahlreicher, miteinander in Beziehung stehender Personen, die „große Politik“ machen, indem sie ihren Leidenschaften nachgehen. Wie in „Der schwarze Schwan“ tritt auch in „Abrechnung in Little Odessa“ ein Personenkollektiv auf, das gemeinsam einem Dschungel ausgeliefert ist. In einer Welt, in der Politiker nur besonders clevere Mafiabosse sind, wird jeder, der keinen Schutzengel hat, zur Beute der Geier, die an jeder Straßenecke lauern wie die Knickerbocker-Boys, die die Isaac-Sidels-Stadt „von Pennern und Bastarden und Niggern und Juden“ säubern wollen.
Die poetische Kraft, die Jerome Charyn aufbringt, um die Verlorenheit des Einzelnen in diesem Getriebe darzustellen, ist bemerkenswert. Die Fragen, inwieweit seine Lebenserinnerungen fiktiv sind und wie viel sein chaotisches New York mit der realen amerikanischen Metropole gleichen Namens zu tun hat, erübrigen sich.
ROBERT BRACK
Jerome Charyn: „Der schwarze Schwan“. Aus dem Amerikanischen von Eike Schoenfeld. Alexander Fest Verlag, Berlin 2002, 185 Seiten, 17,90 €ĽDerselbe: „Abrechnung in Little Odessa“. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger. Rotbuch Verlag, Hamburg 2002, 286 Seiten, 9,90 €
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