: Das AKW hat brave Nachbarn
aus Biblis HEIDE PLATEN
„Biblis? Da wollen Sie wirklich hin?“ Der Mann am Bahnschalter schüttelt den Kopf: „Da ist es doch gefährlich!“
„Biblis“, sagt May-Britt Seidel, „das ist wie ein Markenzeichen. Wie Tempos für Papiertaschentücher oder Pampers für Windeln.“ Das Synonym für Biblis heißt „Atomkraftwerk“. Seidel ist Mitglied einer kleinen IG mit langem Namen: Interessengemeinschaft Frauen und Mütter gegen Atomkraft. Zwei Frauen hatten die IG 1986 gegründet. Der Widerstand ist klein geblieben.
Die vier Riesentöpfe und die beiden grauen Kuppeln des in den 70er-Jahren gebauten Kraftwerks, die Blöcke A und B, ragen mächtig auf zwischen den Feldern vor dem Ortsrand im südhessischen Ried. Die Gemeinde am Rhein ist auch sonst nicht gerade der einladendste Ort. Sie besteht vor allem aus wenigen, endlos langen Straßen. Die Bahnhofs- trifft da auf die Darmstädter Straße, wo ungefähr, vor der rosa Fassade von Optiker Grätz an der Ecke, die Ortsmitte sein könnte, wenn es eine gäbe. Weit und breit kein Café, die Eisdiele hinterm Rathaus und die Wirtshäuser sind geschlossen. Gäbe es nicht die Bäckerei Maltry mit zwei Stehtischen und integrierter Kaffeeröster-Filiale, Biblis wäre noch unwirtlicher.
„Früher waren wir weltweit für die Gurkenkerne bekannt, heute für die Atomkerne“, sagt Alfred Kappel und meint damit den einstigen Gurkenanbau. Kappel ist der Altbürgermeister. Sechs Jahre lang hat der CDU-Mann die knapp 9.000 Einwohner regiert, nun hat er das Amt an die parteilose Hildegard Cornelius-Gaus übergeben, die den Sozialdemokraten nahe steht. Die CDU ist mit 15 Mandaten stärkste Fraktion in der Gemeindevertretung, danach kommen die 12 Sozialdemokraten und je 2 Abgeordnete für zwei Wählergemeinschaften, deren eine in der Nähe der „Republikaner“ zu verorten ist.
Gurken und Atomkraft, die beiden Bibliser Traditionen. Die Gurken wurden bis Ende des 19. Jahrhunderts angebaut, die Atomkraft wird seit 1974 gewonnen. Ende Juni gibt es das Gurkenfest und im Herbst die Energietage, die die RWE Power AG, Betreibergesellschaft des Kraftwerkes, alljährlich veranstaltet. „25 Jahre Block B“, lautete letztes Mal das Motto.
Dass die Energietage einer der Höhepunkte im Gemeindeleben seien, sagt Christa Heuser und lacht, „könnte einen schon deprimieren“. Die Frauen sind aber keineswegs deprimiert, obwohl sie derzeit die Toten und Krebskranken in der Gemeinde zusammenrechnen. Sie sind sicher, dass die Zahlen steigen. Die IG fordert deshalb ein Krebsregister. Regelmäßig zieht sie mit Infoständen durch die Region. Die Stimmung vor Ort sei in letzter Zeit, sagen die Frauen, „nicht mehr so sehr pro Atom“.
Das liegt am Zwischenlager, das RWE bis 2005 bauen will – eine Maßnahme im Zuge des Atomkonsenses (siehe Kasten). Gegen das Lager haben die Frauen der IG 1.200 Unterschriften gesammelt. Nach Störfällen, sagen sie, wachse das Interesse, versande dann aber wieder. Der Unmut der Bevölkerung sei eben „sehr leise“. Christa Heusers Mitstreiterinnen Doris Eichenauer und Inge Würsching führen das auf „eine Stimmung von Resignation und Hilflosigkeit“ zurück. Auf die Grünen setzen sie nicht mehr. Inge Würsching ist bitter: „Grüne? Gibt es die noch? Das sind doch alles Wendehälse geworden.“
Altbürgermeister Kappel ist ein humorvoller freundlicher Mann, der die politischen Gegner respektieren kann. Am Ende seiner Amtszeit hat er sogar Übereinstimmung mit ihnen entdeckt. Gegen das Zwischenlager auf dem Gelände des Atomkraftwerks haben sich Gemeindevorstand und Gemeindevertretung einstimmig ausgesprochen. Die Leute, sagt Kappel, seien genug belastet worden. Außerdem gebe es doch schließlich schon Zwischenlagerstätten in Ahaus und Gorleben: „Ich verstehe nicht, warum da zwei Jahre vor dem Ende der Erkundung Schluss sein soll.“ Und: „Wir haben hier die Befürchtung, dass das auf ein Endlager bei uns rausläuft.“ Dass der Ort vom Atom gut gelebt habe und nun den Sankt Florian spiele, will Kappel nicht auf dem Ort sitzen lassen: „Wir tragen die Last des Standortes.“ Auch seine Nachfolgerin Cornelius-Gaus ist keine Atomkraftgegnerin. Sie reagiert philosophisch: „Alles, was wir Menschen machen, hat Konsequenzen.“
Kappel hütet sich, mit den Schönheiten des Ortes zu übertreiben. Er preist vor allem das rege Vereinsleben an. Über 60 Vereine gibt es. Angler, Eisenbahner, Surfer, Chöre, Sport. Die Arbeitslosigkeit beträgt 8 bis 9 Prozent. Die Einwohner sind von den Betrieben im 30 Kilometer entfernten Mannheim abhängig. Im Kraftwerk sind rund 700 Menschen beschäftigt, aber sie kommen längst nicht alle aus Biblis. Dass die Bibliser ihren Strom gratis bekommen, sagt Kappel, sei ein Gerücht. Stromdeputate gebe es nur für RWE-Angestellte. Und reich geworden sei Biblis durch das Atomkraftwerk auch nicht. Sicher sponsere die Firma die Sportvereine, sicher habe sie das vorbildliche Niedrig-Energie-Projekt Pfaffenauhalle bezahlt. Auch gebe es Aufträge für das örtliche Handwerk und Spenden für Kindergärten. Dennoch profitiere Biblis nicht annähernd so vom Atomstrom „wie zum Beispiel Obrigheim und Gundremmingen“: „Es könnte ein bissel mehr sein. Wir hängen nicht am Tropf der RWE.“ Die Konzernspitze sitze nun einmal nicht in Hessen, sondern in Essen. Da falle für Biblis nicht viel vom Steueraufkommen ab. Ernst Müller, Sprecher der RWE, bestätigt das. Er nennt eine „namhafte fünfststellige Summe“, die sich in kleine und kleinste Beträge aufsplitte: „Wenn die C-Mannschaft der Handballjugend die Kreismeisterschaft gewinnt, dann sind mal Trikots drin.“ Die Firma spende Preise für die Sportlertombola, stifte Anzeigen in Vereinszeitungen.
Der Haushalt der Gemeinde, sagt Altbürgermeister Kappel, sei „seit Jahren ausgeglichen“, weil sie sich kontinuierlich um Gewerbeansiedlung bemüht habe. Es gebe sogar Zuzüge. Der Erholungswert sei mit den Jahren gestiegen. Da seien das Freizeitzenrum Riedsee und die angrenzenden Gewässer, von der Fläche fast so groß wie der ganze Ort, die wegen der günstigen Windverhältnisse immer mehr Surfer und Segler anlockten. Oder der private 27-Loch-Golfplatz, der Kulturherbst und das Hallenbad.
Die Frauen der IG wissen, dass es sich in Biblis trotzdem anders lebt als anderswo. Doris Eichenauer vermeidet es manchmal, ihren Wohnort zu nennen. Ihre Mitstreiterin Christa Heuser geht hin und wieder zum Kraftwerk und merkt, wie sich ihre Atmung verändert, „als sei die Luft dort anders“. Viele Bibliser haben, ob sie nun an deren Nutzen glauben oder nicht, für den Fall des Super-GAUs die Fluchtwege studiert. May-Britt Seidel kennt Familien, „die seit vielen Jahren ein Notköfferchen gepackt haben und den Schlüssel für ihre Ferienwohnung immer bei sich tragen“. Trotzdem, wegziehen will keine der Frauen. Die Bibliser sind, sagen sie, sehr heimatverbunden. Und pfiffig auch. Vor einer Demonstration gegen einen Atommülltransport hatten Unbekannte den Lagerplatz der Castorgegner mit Gülle besprüht. Die Frauen finden es gut, wenn ihre Kontrahenten „auch mal ein bisschen Fantasie haben“.
Sonst herrscht zwischen den wenigen Gegnerinnen und den vielen Befürwortern meist Waffenruhe. Schließlich arbeiten auch Verwandte und Bekannte im Atomkraftwerk. Doris Eichenauer ist froh, „dass man uns hier bisher so leben lässt, wie wir sind.“ Sie sagt auch: „Wir Bibliser sind friedliche Menschen.“
Mehr Widerstand kommt von außen, aus Mainz, Darmstadt, Mannheim, dem Odenwald. Jeden dritten Sonntag im Monat trifft er sich um 14 Uhr am Bahnhof zum Sonntagsspaziergang. So lange, sagt der Protestler Matthias, „bis das Atomkraftwerk abgeschaltet wird“. Knapp 20 Männer und Frauen zwischen 18 und 30 Jahren sind es an diesem Märztag, die die vier Kilometer, vorbei am Friedhof, in Richtung Meiler schlendern. Trotz eines Störfalls am 13. März ist kein einziger Bibliser dabei. Hinter der Bahnschranke zweigt die Privatstrecke der RWE ab, im Gegensatz zu Gleisen der Bahn AG darf man hier so lange laufen, bis der Eigentümer einschreitet. Das jedenfalls hat ein Gericht zugunsten der Demonstranten entschieden und der RWE auferlegt, ihre Gleise zu markieren, alle 25 Meter ein Schildchen mit der Kilometerzahl. Seither wissen die Sonntagsspaziergänger genau, wie weit sie noch marschieren müssen. Bei „4,0“ sind Stacheldraht und Betonzaun erreicht. Schichtwechsel beim RWE-Personal. Die Atomkraftgegner essen mitgebrachten Schoko-Nuss-Kuchen. „Ein Stahlwerk“, sagt einer, „ist beeindruckender.“ Irgendwie verhält es sich mit dem Atomkraftwerk wie mit dem Scheinriesen aus „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“: Je näher man kommt, umso weniger gigantisch wirkt es. Nur dass der Scheinriese bei Jim Knopf wirklich harmlos war.
Vielleicht kommt von der ständigen nahen Ansicht die Seelenruhe der Bibliser – egal ob sie Atomkraftfreunde- oder -feinde sind. Alfred Kappel zum Beispiel möchte sich über die Demonstranten nicht beklagen. „Die räumen sogar ihren Müll selber weg.“ Und wer hat nun die Gülle beim Lager der Castorgegner ausgeschüttet? Keine Ahnung, sagt Kappel und lächelt: „Vielleicht hat da ein Nachbar gedüngt?“
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