: Liebe nur auf Ecstasy
Die Masken der Popmusik: Für ihr neues Album „Release“ sind die Pet Shop Boys vom Synthesizer auf Gitarren umgestiegen. Doch der Gestus ist immer noch der gleiche. Über Schmerzen, Ironie und Kitsch: Notizen einer Audienz in einem Kölner Hotel
von ARNO FRANK
Pop ist ein Jahrmarkt. Marilyn Manson sitzt dort mit Kajal um die Augen im Kassenhäuschen der Geisterbahn. Eminem lungert mit seinen Kumpels bei den Autoscootern herum und belästigt kleine Spice Girls. Metallica zeigen ihre Tattoos und beweisen ihre Kräfte am Hau-den-Lukas. Und die Pet Shop Boys? Haben einen Stand mit Leckereien. Eine kleine Zentrifuge dreht sich mit irrwitziger Geschwindigkeit in einer runden Trommel und spinnt geschmolzenen Zucker zu klebrigen Fäden: „Zuckerwatte“, meint Neil Tennant ohne Zögern, „wir würden dort die Zuckerwatte verkaufen.“ Worauf sein Kollege Chris Lowe den Zeigefinger hebt und betont: „Wir lieben Zuckerwatte.“
Als jüngster Liebesbeweis mag „Release“ gelten, das neue Album des britischen Duos. In der „Händel Suite“ eines Kölner Hotels sprechen sie über die Platte, die sie zwei Tage zuvor bei einem kleinen Konzert vorgestellt haben. Tennant bewegungslos am Mikro, höchstens manchmal das Gewicht von einem auf den anderen Fuß verlagernd, dahinter finster Lowe unter seiner notorischen Baseballkappe am Keyboard, umgeben meist von wichtigem Bühnendesign wichtiger Bühnendesigner – so war das früher, so war das eigentlich immer. Mit „Release“ hat sich das Auftreten einstweilen geändert. Mit dreiköpfiger Begleitband erscheinen die Pet Shop Boys nun, mit Musikern wie Bic Hayes (Ex-Darkstar), Mark Refoy (Ex-Spiritualized) und der Percussionistin Jodie Linscott. Gespielt wird nicht mehr der energetische Bubblegum-Pop, für den sie berühmt sind, sondern weich gefederte Balladen auf solidem Rock-Chassis. Nach einem Ohrwurm wie „I Get Along“ etwa würden sich die Gallagher-Brüder die Finger lecken – ein typischer Oasis-Song, dargeboten im Fummel. Und dominiert von so schmelzender Lust an der Melodie, dass Hits wie „Suburbia“, „Go West“ oder „What Have I Done To Deserve This“ immer wie ein Subtext unter dem neuen Material durchscheinen.
Alt geworden sind sie in diesem Geschäft, alte Dandys. Neil Tennants Geheimratsecken scheinen in den letzen 16 Jahren zwar kaum gewandert zu sein. Sich die Haare zu färben, das hat er mit seinen 47 Jahren als Popstar aber nicht nötig. Sie sind einfach grau. Vergnügt faltet er die Hände vor einem gemütlichen Bauch, der beim Konzert noch von seiner Gitarre verdeckt war. Eine akustische Gitarre!
„Statt elektronischer Dance-Sounds haben wir diesmal Rock-Samples verwendet“, beschreibt Tennant den Spurwechsel, „aber es sind trotzdem Samples.“ Luxus ist es, einen Johnny Marr von The Smiths ins Studio zu bitten, um sich seine eingespielten Gitarrenläufe anschließend als Klangkonserve operabel zu machen. Nur so kann das Instrument der ökonomischen Opulenz dienen – an manchen Stellen liegen die Gitarrenspuren gleich dutzendweise übereinander.
Luxus ist es auch, sich für das Video zur Single „Home And Dry“ einen Künstler wie Wolfgang Tillmanns zu leisten, der mit wackeliger Digitalkamera Mäuse auf Nahrungssuche zwischen U-Bahn-Gleisen abfilmt. Ein Schlag in die erwartungsfrohen Gesichter bei MTV und Viva, die den spröden Clip dann doch ausstrahlen. Es sind eben die Pet Shop Boys, und die werden sich schon was dabei gedacht haben. Tennant hat bis 1985 als Redakteur für den Comic-Verlag Marvel und das Musikmagazin Smash Hits gearbeitet. Er weiß, wie das Geschäft funktioniert.
Und deshalb ist auch die vorgebliche Wendung zum akustischen Sound nur eine weitere Maske, ein Rekurs auf Wurzeln, die die Pet Shop Boys nie geschlagen haben. „Opportunities (Let’s Make Lots Of Money)“ war Mitte der Achtziger ihre erste Single und Losung zugleich. Ihr erstes größeres Interview gaben sie einem virtuellen Moderator: Max Headroom von MTV. Vom Ruch artifizieller Berechnung würde sich diese Band nie befreien können, das war klar. Der Trick aber war, darauf eine Philosophie zu gründen.
Selbst als in den Neunzigern die technischen Möglichkeiten das kreative Potenzial vieler Künstler überrundete, blieben die Pet Shop Boys bei ihren Leisten. „Wir springen nicht auf anderer Leute Züge“, wirft Chris Lowe ein, der im Schneidersitz neben Tennant auf dem Sofa kauert: „Ein Grund, warum wir immer noch im Geschäft sind, ist sicher, dass wir das nicht gemacht haben. David Bowie hat es auch nicht gut getan, plötzlich in Drum ’n’ Bass zu machen“. Dessen Platte „Earthling“ klänge doch heute „wie eine typische, schräge Mittneunziger-Sache“, sekundiert Tennant: „Ich sehe die Gefahr, dass wir irgendwann beschließen: Okay, wir sind jetzt die Chemical Brothers. Okay, wir sind jetzt Daft Punk. Es gibt ziemlich viele Künstler, die sich dafür entscheiden, nun sozusagen die Pet Shop Boys zu sein. Das ist keine Entwicklung, das ist Opportunismus. Selbst dafür ist Platz in der Popmusik“, fügt er mit einem Schulterzucken hinzu.
Tennant und Lowe sind ein altes Ehepaar, obschon ihre Beziehung rein professioneller Natur ist. Sie sprechen im Plural, spielen sich die Bälle zu und zanken liebevoll über Grundsätzliches. Chris Lowe hält Kylie Minogue in ihrer Rolle als Engelchen in „Moulin Rouge“ für puren Kitsch, Tennant dagegen für einen Beweis der „unglaublichen Stilsicherheit“ des Regisseurs. Lobt Tennant das Elvis-Costello-Stück „Ship Building“, fragt Lowe nach, ob der Song nicht besser „Shit Building“ heißen müsste. Die beiden lachen viel, oft und laut.
Auch auf die Frage, ob ihnen denn das Revival der Achtziger nicht gut in den Kram gepasst hat. „Wir waren zu spät dran, wir kamen erst 1986 groß raus und sind keine Eighties-Band im eigentlichen Sinne“, behauptet Tennant: „Die Musik der Achtziger endete mit ‚Life Aid‘. Eighties, das war Culture Club, Bronskie Beat, Frankie Goes To Hollywood. Und wir waren eine Reaktion darauf, wir kamen danach.“ Auch Lowe wehrt ab: „Wer vom Eighties-Revival spricht, der meint meistens die Rückkehr dummer Frisuren – ich sage nur Flock Of Seagulls …“
Was Tennant, der Musikjournalist, prompt wieder einschränkt: „ ‚Dare‘ von Human League klingt immer noch faszinierend, selbst die Lyrics lesen sich wie ein Drehbuch. Oder diese andere Sensation, ‚Sweet Dreams‘ von den Eurythmics. Dazu diese irren Gestalten! Und alle verschwanden sie, als die Rave-Szene aufkam, ein kompletter Gegenentwurf: gesichtslose Produzenten, die im Studio Dance-Platten aufnehmen. Und das ging dann die ganzen Neunzigerjahre so. Vielleicht erinnern sich viele Leute deshalb so gerne an diese Dekade, weil sie sich der überlebensgroßen, flamboyant gekleideten Persönlichkeiten entsinnen. In den Achtzigern hatten die Leute noch Ideen. Heute wird in der Popmusik nicht mehr in Ideen gedacht.“
Die Idee der Pet Shop Boys, ihr sublimes Konzept, ist denkbar einfach: Banale Melodien zu tanzbaren Beats, süffige Gebrauchsmusik mit garstigen Widerhaken ausgerechnet dort, wo man sie am wenigsten erwartet – in den Texten. Denn geliebt wird bei den Pet Shop Boys immer nur mit Einschränkungen: Ob in Lyrics wie „I love you / you pay my rent“ oder Songs wie „You Only Tell Me You Love Me When You’re Drunk“ – stets bricht sich der euphorische Wohlklang an inhaltlichen Dissonanzen.
„Der Schmerz in der Liebe ist inspirierender als der Spaß“, doziert Tennant: „Musik, unsere Musik, hat immer mit Schmerz zu tun, dem Ausdruck von Schmerz. Du nimmst den Schmerz und gießt ihn in ein Lied, du lässt ihn für dich arbeiten – und befreist dich dadurch von ihm. ‚Home And Dry‘ ist ein solcher Song, ein Liebeslied, das von Distanz und Angst handelt. Ich hätte auch schreiben können: ‚You Only Love Me When You Are On Ecstasy‘, es bleibt dieselbe Frage: Ist es ehrlich oder nicht?“
Worte wie Ehrlichkeit und Authentizität gehen den Künstlern, die ihre Karriere im begrifflichen Minenfeld zwischen Kunst, Kitsch und Künstlichkeit angelegt haben, erstaunlich leicht über die Lippen. Und ohne jedes Augenzwinkern: „Das ist es, was ich an Dingen liebe, die camp sind, das ist die Ehrlichkeit“, sagt Tennant und widerspricht damit der klassischen Definition von Susan Sonntag, wonach camp etwas so Schlechtes ist, dass es schon wieder gut ist.
Wenn sich der Theoretiker Tennant warm redet, sitzt Lowe stumm daneben und studiert seine Fingernägel. Das Thema ist dünnes Eis und diskursives Fundament der Pet Shop Boys zugleich: „Heutzutage ist der Kitsch ironisch gebrochen, deswegen mögen wir ihn nicht. Ich mag ehrlichen Kitsch, die Ehrlichkeit überhaupt, die es im Kitsch einmal gegeben hat. John Waters beispielsweise ist guter Kitsch. Sein Film ‚Hairspray‘ ist nicht ironisch, er ist auch nicht kitschig, aber er handelt von Kitsch, er handelt von Ironie. Und er handelt von Rollen“.
Das ist es auch, was die beiden homosexuellen Altpopper am schwulenfeindlichen Rüpelrapper Eminem fasziniert: „Es werden im Pop fürchterlich viele Rollen gespielt, vor allem Macho-Rollen. Eminem ist vielleicht der Einzige, der das Tragen von Masken annähernd so gut beherrscht wie David Bowie. Er macht nicht nur tollen Pop, sondern ist auch Fleisch gewordene Gesellschaftskritik. Er sagt das Unsagbare und regt die Leute auf, das ist cool.“
Trotzdem bekommt er in „The Night I Fell In Love“ eine elegante Ohrfeige verpasst, quasi mit samtenem Handschuh: Tennant singt zu einem angedeuteten HipHop-Beat über einen Jungen, der sich von einem erstaunlich freundlichen Eminem vögeln lässt („He had a video camera“!).
„Ich habe mir vorgestellt: Was, wenn Eminem insgeheim schwul wäre? Wäre das nicht total süß?“, fragt Tennant unschuldig. Und es leuchtet ein, warum die Pet Shop Boys so gerne Zuckerwatte verkaufen wollen. Sie ist natürlich vergiftet.
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