LEIPZIG: NEONAZIS KONNTEN WEGEN DER POLIZEI NICHT DEMONSTRIEREN
: Antifaschistische Alltagswidersprüche

Es geht also – man muss nur wollen. In Leipzig haben die Präsenz antifaschistischer Demonstranten und das Vorgehen der Polizei einen Neonazi-Umzug mit Kundgebung vor dem Völkerschlachtdenkmal verhindert. Maßgeblichen Anteil daran hatten die intensiven Kontrollen der Ordnungskräfte, die dafür sorgten, dass den Rechtsradikalen die genehmigte Zeit für ihre Aktionen davonlief. Mit stillem Vergnügen registrierte auch mancher Beamte, dass auf diese Weise nur noch eine kleine Abschlusskundgebung am Bahnhof möglich war.

Liberalem Denken entspricht dieses De-facto-Verbot der freien Meinungsäußerung nicht; für ein schales Gefühl sorgten sowohl der offen erkennbare Tagesauftrag an die Polizei, den Neonazis nach Kräften Hindernisse in den Weg zu legen, als auch die Freude der vielen Gegendemonstranten an ebendieser Taktik. Dass Freiheit immer die Freiheit des anders Denkenden ist, stellten manche der Rosa-Luxemburg-FreundInnen in Leipzig für diesen Tag zurück. Wenn Linke dem Staat einen repressiven Umgang mit Freiheitsrechten vorwerfen – sollten sie nicht auch für die Rechten gelten?

In der Sache war eine solche Besorgnis in Leipzig gegenstandslos. Denn die Neonazis hätten ihr Zeitproblem nicht gehabt, wenn sie pünktlich gewesen wären. Und dass ihre Liste mit Ordnern unakzeptabel war, ist keine Frage der Meinungsfreiheit gewesen. Auch politisch schießt die liberale Kritik weit über das Ziel hinaus. Die Unantastbarkeit der Meinungsfreiheit und der Rechtsstaatlichkeit ist ein Prinzip – doch die politische Alltagspraxis kann davon durchaus abweichen. Wenn sich Antifaschisten einer genehmigten Demo von Neonazis in den Weg stellen, ist dies zwar illegal, aber legitim. Dass die Polizei im Vorfeld absehbarer Sitzblockaden ebendiese dazu benutzt, Neonazi-Gruppen den Vorbeizug an Symbolobjekten zu verbieten – statt ihn durchzusetzen –, ist zwar hart am Rande des juristisch Akzeptablen, aber politisch eine Selbstverständlichkeit. Mit solchen Widersprüchen, die keine theoretischen Konstruktionen sind, muss leben, wer die Auseinandersetzung mit Leuten will, die selbst keinerlei Widersprüche zulassen.

Und dass der Beamte eines Sondereinsatzkommandos einmal einen Altnazi anschrie, er solle sich in sein Auto scheren und abhauen, statt dessen freie Durchfahrt zum Treffen der alten Kameraden zu gewährleisten, ist eine zwar seltene, aber erfreuliche Erfahrung aus der antifaschistischen Praxis. Das Autokennzeichen des erbosten alten Herrn, der sich dann aus Angst vor Steinen auf seinen cremefarbenen Mercedes schnell trollte, endete übrigens auf „ SS 1“. DIETMAR BARTZ