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Der Gärtner des Lebens

Wildwuchs: Fritz Mierau liest heute Abend aus seiner Autobiografie „Mein russisches Jahrhundert“ im Literaturforum

Wenn es eine deutsch-russische Freundschaft jenseits von gemeinsamen Saunabaden und Biolek’schen Plausch gibt, dann hat Fritz Mierau daran seinen Anteil. Unermüdlich hat der Slawist in den letzten vierzig Jahren die literarische, russische Moderne übersetzt und vermittelt. Dass Mandelstam und Babel neue Leser gefunden, Jessenin oder Tretjakow nicht in Vergessenheit geraten sind, dafür wird ihm die Literaturhistorie einmal Kränze flechten. Mierau, der sich selbst als „akademischen Wildwuchs“ beschrieben hat, war Philologe aus Passion.

Seine Autobiografie „Mein russisches Jahrhundert“ hat er in drei Stufen gegliedert: Einweihung, Ausdehnung, Sammlung. Auch ein Philologenleben bedarf der Initiation, bildungsfromm zitiert Mierau ganz am Ende Schiller. „Zu Archimedes kam ein wißbegieriger Jüngling. / ‚Weihe mich‘, sprach er zu ihm, ‚ein in die göttliche Kunst.‘ “

„Eingeweiht“ wird Mierau – 1934 in Breslau geboren und im sächsischen Döbeln aufgewachsen – von seinem verehrten Lehrer Arthur Pfeifer; „ausgedehnt“ wird das noch flüchtige Wissen auf der großen „Russischen Reise mit georgischer Schleife“; und zum Schluss „sammelt“ der Philologe in Anthologien („Russen in Berlin“) und Biografien („Jessenin“) alles ein. Was steckt hinter Mieraus russischer Leidenschaft? Sicherlich keine ideologischen Flötentöne. Das sozialistische Großmannsgetue, auch der Gemeinschaftswahn waren dem Einzelgänger immer suspekt. Mieraus „östliche Disposition“ kam aus ohne „imperiales Brauchtum“. „Freundschaft“ – in der alten DDR bekanntlich mehr als ein Wort, Ausweis unverbrüchlicher Brudertreue – verband ihn allein mit den Exzentrikern der russischen Literatur.

Was Mierau an der russischen Literatur faszinierte, waren nicht die ideologischen Dunkelmänner, sondern die Artisten und Experimentalisten, das Helle und Moderne. Die von ihm so leidenschaftlich bedachten Symbolisten waren oft verfemt, unter Stalin nicht selten verfolgt und ermordet. Wer wüsste von all den russischen Geistesbrüdern der franzöischen Symbolisten Mallarmé und Verlaine noch, hätte Mierau nicht an sie erinnert? Der Westen ist mehr als ein geografischer Name.

Mieraus anarchisch-abenteuerliches Herz schlug für feurige Wortspiele, an trockener Wiederspiegelung zeigte er wenig Interesse. Mit den Blockwarten der „reinen“ Lehre lag er ständig über Kreuz. Beim „Sieg des Weltgeistes über die Beschränktheiten des Subjekts“ wollte er nicht mitjubeln. Schon auf der Oberschule wurde er für seine „individualistische Lebenshaltung“ reglementiert. Irgendetwas von ihm wird immer verboten, aufgeschoben oder mit Auslassungspunkten versehen. Aber all diese ideologischen Borniertheiten vergisst schnell, wer mit ihm auf russische Reise gehen kann. Mierau führt uns noch einmal an die auratischen Dichterorte: Scholochows Wjoschenskaya, Isaak Babels Odessa und Woloschins Koktebel auf der Krim. Skurrile Gestalten begegnet man unterwegs, einen betrunkenen Nachtwächter Pasternaks, Walter Benjamins bolschewistische Muse und immer wieder Cläre Jung, die Gefährtin eines Schiffsräubers und Börsenkorrespondenten. Zuletzt hat Mierau den Naturphilosophen Pawel Florenski entdeckt, der am Goethe-Projekt weiterschreibt gegen die Verzifferung der modernen Welt. Auch dieses Urgewächs wird nun in Mieraus Philologengarten seinen Platz finden, neben blauen Blumen, wilden Orchideen, Spaltpilzen und Torpedokäfern.

STEPHAN SCHLAK

Um 20 Uhr, Literaturforum im Brecht-Haus, Chausseestraße 125, Mitte

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