: Diverse düstere Pop-Erzählungen
Der Körper versetzt ihn in Panik: Video-Clip-Artist Chris Cunningham zeigt seinen neuesten Clip „Flex“ im Hamburger Bahnhof
von OLIVER KÖRNER VON GUSTORF
Chris Cunninghams Verhältnis zur leiblichen Beschaffenheit ist, wie er gesteht, recht ungewöhnlich: „Der Körper versetzt mich in Panik. Lange Zeit stellte ich mir vor, ich wäre hohl, weil ich den Gedanken an all die Organe in meinem Inneren nicht ertragen konnte, diese Vorstellung machte mich wirklich krank.“ Gleichwohl prägt gerade die an Besessenheit grenzende Fixierung auf anatomische Details seine künstlerische Arbeit. Der in London lebende Amerikaner, dessen Karriere bereits mit sechzehn als Make-Up Spezialist für Horrorfilme wie Clive Barkers „Nightbreed“ oder später für „Alien3“ begann, avancierte durch seine irritierenden Video- Clips für Portishead, Aphex Twin, Leftfield, Madonna und Björk zum Shooting Star der globalen Kunst- und Medienszene.
Mit den traumhaft bedrückenden Körperwelten, die der 32-Jährige durch den perfekt getimten Einsatz von Licht, Schnitt, Soundtrack und Spezialeffekten schafft, befriedigt der Regisseur ein grundlegendes Bedürfnis. In einer Welt, die zunehmend durch Wissenschaft und Technologie erklärt wird, bieten seine Videos Stoff für postindustrielle Mythen und Märchen. Cunninghams düstere Pop-Erzählungen decken sich fatal mit urbaner Realität, und doch sind in diesem Kosmos verslumte Hochhaussiedlungen, Highways oder unterirdische Labors von dämonischen Kinderklonen, verwahrlosten Mutanten, androgynen Morph-Hexen und narzistischen Robotern bevölkert.
Spätestens seit 2000, als er in der Londoner „Apokalypse“ - Ausstellung in der Royal Academy neben Künstlern wie Jeff Koons, Agnus Fairhurst oder den Chapman Brüdern zu sehen war, ist Cunningham mit der renomierten Anthony D’Offray Galerie im Rücken der Aufstieg in die Topliga der zeitgenössischen Kunst gelungen. Angesichts dessen wundert es nicht, dass das aus diesem Anlass produzierte Video „Flex“, welches nun im Rahmen einer Mini-Show im Hamburger Bahnhof zu sehen ist, einen vermeintlichen Bruch bezeichnet. Vordergründig zollt es seinen Tribut eher an Michelangelo oder William Blake, als an MTV.
Agierte Björk in „ All is Full of Love“ 1999 als autoerotischer Cyborg, der lustvoll von den gigantischen Greifarmen einer verlassenen Fabrikstraße zusammengesetzt wird, und sich dem Liebesspiel mit ihrem synchron gefertigtem Alter Ego hingibt, erscheint der Schöpfungsmythos hier wieder ganz auf den Menschen zurückgeführt. Der paradiesischen Vision einer sich selbst liebenden und reproduzierenden Technologie, wird nun der vorausgegangene Sündenfall ihrer Schöpfer gegenüber gestellt – die profane Erkenntnis von trennender menschlicher Geschlechtlichkeit, die in einem infernalischem Wutausbruch zwischen Mann und Frau mündet. Die aggressive sexuelle Konfrontation des nackten Paares in „ Flex“ gleicht einem vorsinnflutlichen Schlachtfeld – eher „Jurassic Park“ als „ Fight Club“.
In einer undurchdringlichen kosmischen Finsternis gefangen, in der die Gesetze von Zeit, Geometrie und Schwerkraft aufgehoben zu sein scheinen, prügeln und ficken sich die Geschlechter die Seele aus dem Leib. Was zunächst wie eine bemüht bedeutungsvolle Beziehungsallegorie erscheint, wird von Cunningham mit unbarmherziger Präzision als bloße Choreografie inszeniert, welche nüchtern die Grenzen körperlicher Belastbarkeit auslotet. Erst nach einer brutalen Vergewaltigung tritt erschöpfte Ruhe ein. Als das Paar schließlich bewusstlos durchs Dunkel treibt, erhellt ein fahler Lichtstrahl das Dunkel. Weiße Flüssigkeit steigt auf, und durchflutet wie kosmisches Sperma den Raum. Es könnte jene Substanz sein, die durch Rohre gepumpt, auch der singenden Robotergestalt in „All is Full of Love“ Leben und Seele einhaucht.
Cunninghams ebenfalls im Hamburger Bahnhof gezeigtes Video „Monkeydrummer“, zeigt ein achtarmiges anthropomorphes Konstrukt, das von elektrischen Impulsen getrieben in der Manier von Keith Moon auf diversen Trommeln rumhämmert. Der neue Prometheus erscheint nun so wie Cunningham selbst es sich immer gewünscht hat – als Reflex seines Schöpfers, befreit von allen Ängsten und innen hohl.
Bis 1. Mai, Hamburger Bahnhof
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