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in fußballlandCHRISTOPH BIERMANN über den Zauber des Balls

Das Herz, randvoll gefüllt

Es war sicherlich nicht das technisch oder taktisch beste Spiel in dieser Saison und nicht einmal das größte Drama. Es war auch nicht ohne Fehler, sondern voll davon. Trotzdem wird niemand, der die Partie miterlebt hat, sie so bald vergessen. Denn das Spiel, das am 28. April 2002 um 15 Uhr im Bochumer Ruhrstadion zwischen dem VfL Bochum und dem 1. FC Union Berlin angepfiffen wurde, entwickelte all den Zauber, aufgrund dessen Fußball eine so großartige Sache sein kann.

Dabei schien zu Beginn noch alles normal zu laufen, weil der VfL Bochum früh in Führung ging und es überhaupt ganz danach aussah, als würde der im Aufstiegsrennen in die erste Liga nötige Sieg mit einer gewissen Leichtigkeit eingespielt werden. Doch dann kam es anders, wozu es einer gewissen Fallhöhe bedurfte, für die in Bochum fast immer die Abwehr zuständig ist, und dort sehr gerne ein Spieler namens Frank Fahrenhorst. Der junge Mann entstammt der Jugendarbeit des Klubs, was ihm beim Publikum einen gewissen Sympathievorschuss verschafft, den er durch große Schusseligkeit aber schon mehrfach verzehrt hat. So wie nach einer Viertelstunde gegen Union Berlin, als er offensichtlich nicht in die Abseitsfalle eingeweiht war und tapfer die Stellung hielt, während seine Kollegen nach vorne stürzten, weshalb nach einem Freistoß plötzlich fünf Berliner allein vor dem Bochumer Tor standen und gemütlich zum Ausgleich kamen.

Diese Zuspitzung reichte den Bochumern nicht, denn der Austro-Kasache Sergej Mandreko kombinierte zehn Minuten vor der Pause mangelndes Stellungsspiel mit Unbeholfenheit und fehlender Schnelligkeit. Da blieb ihm nur, den Gegner in höchster Not zu foulen, und dem Referee keine Wahl, als ihm die Rote Karte zu zeigen. In Unterzahl gegen eine gute Mannschaft auf tiefem Boden unbedingt noch den Sieg schaffen zu müssen, während Sonne und heftige Schauer sich abwechseln, das ist nicht leicht Es ist sogar verdammt schwer. Doch tapfer wühlten sich die Blau-Weißen durch den Schlamm, wuchteten eine Reihe Chancen voraus, rauften sich die Haare und standen immer in der Gefahr, den finalen Nackenschlag des Gegners hinnehmen zu müssen. Wie etwa nach einer Stunde, als der unglückliche Fahrenhorst seinen Gegenspieler im Strafraum zwar nicht foulte, der Schiedsrichter aber trotzdem auf Elfmeter entschied. An der Seitenlinie wedelte jedoch tapfer sein rechtschaffener Assistent mit der Fahne und redete ihm den Fehler aus, weshalb der nicht minder aufrechte Referee seine Entscheidung zurücknahm.

So ganz hatte der Unparteiische aber noch nicht zu sich gefunden. Denn als ein Bochumer, von zwei Berlinern in die Zange genommen, mit letzter Kraft den Ball in den Strafraum schubste und der Iraner Hashemian den Ball ins Tor drosch, pfiff er den Vorteil ab. Da war die Verzweiflung groß, doch immer noch alle Tapferkeit in den Mannen, deren Beine längst bleiern schwer sein mussten. Nur mochten sie sich dem Schicksal einfach nicht beugen. Der junge Freier stürzte auf dem glitschigen Boden gegen eine Bande, schnitt sich dort die Hand tief auf und war nur wenige Momente danach, frisch verbunden, wieder auf dem Platz, obwohl ihm seine Wunde später mit sieben Stichen genäht werden musste. Für den Dänen Thomas Christiansen hätte bei seiner Auswechselung eigentlich ein Sauerstoffzelt bereitgestellt werden müssen. Alle gaben alles, und längst waren die Bochumer bei der Essenz des Spiels angekommen: dem unbedingten Willen zum Sieg.

Hätte es kein Happy End gegeben, wäre niemand im Stadion böse gewesen, sondern dankbar dafür, das gesehen haben zu dürfen. Oben auf der Tribüne sagte Christoph aus Freiburg, der am Tag zuvor den Sport-Club seiner Stadt voller Trauer aus der Bundesliga verabschieden musste: „So etwas füllt einem das Herz.“ Das stimmte, weil hier das Spiel trotz aller Unzulänglichkeiten ganz bei sich selbst war. Und schließlich fehlte nicht einmal das Happy End, als Berlins Torhüter am letzten Eckball vorbeigriff. Der Ball wurde verlängert, dann flog er ins Tor. Den Siegtreffer erzielte, wie hätte es an diesem Tag anders sein können, Frank Fahrenhorst.

Fotohinweis:Christoph Biermann (41) liebt den VfL Bochum und schreibt darüber.

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