piwik no script img

Kontinentale Drift

Auf seinem Weg vom schwedischen Bohemien zum Weltkunst-Politaktivisten blieb Öyvind Fahlström Eigenbrötler. Das Institut d'art contemporain Lyon-Villeurbanne zeigt eine große Retrospektive

von JOCHEN BECKER

Seit gut einem Jahrzehnt wird nun Öyvind Fahlström wieder entdeckt. Und endlich ist auch die große Retrospektive auf Wanderschaft, die – nicht zuletzt dank des umfassenden Katalogs – einen Überblick über das komplexe Werk des 1976 an Krebs gestorbenen Multimediakünstlers gewährt. Schon aufgrund seiner Biografie ist Fahlström schwer zu verorten. 1928 als Kind skandinavischer Eltern in São Paulo geboren, zehn Jahre später durch den Zweiten Weltkrieg von der Familie getrennt, wuchs Fahlström in Schweden auf, wo er auch – nach langen Wanderjahren mit Schwerpunkt New York – in Stockholm begraben wurde.

Im Rahmen der jetzt am Institut d'art contemporain in Lyon-Villeurbanne gastierenden Ausstellung sieht man denn auch in einem um 1960 entstandenen Film des einst aus Nazideutschland exilierten Peter Weiss schwedische Intellektuelle am Tisch in Fahlströms Atelierwohnung sitzen und debattieren, während er an seinen Skizzenbüchern arbeitet. Peter Weiss' Film ist stumm. Fahlströms eigener psychedelischer Fernsehbeitrag „U-Barn“ von 1968 hat zwar Ton, lässt sich aber dennoch nur schwer dechiffrieren, schon weil man in den seltensten Fällen Schwedisch spricht.

So sieht man Altersheime, behinderte Kinder oder Schulen hinter Gitterstäben als Einschließungsmilieu und gegen Ende in Farbe eine wilde Anti-Vietnamkrieg-Demo als Straßentheater. Die Akteure wirken studentisch und halten ein Schild „Kronprins“ sowie eine penishafte Gurke empor. Das Feedback durchs Megafon geht in Jetlärm über. Dazwischen geschnitten paradieren Soldaten. Fahlström war zu der Zeit ein politischer Aktivist und zugleich politisierter Künstler.

Zu Beginn jedoch zeigt die Ausstellung anhand voll gekritzelter Notizbücher, Typoskripte und an den Rändern schon vergilbter Blätter einen eher un-coolen Fahlström. Im Eingangsbereich des Institut d'art contemporain in Lyon-Villeurbanne meint man so noch den Pfeifenrauch der Nachkriegsboheme zu riechen. Der chronologische Auftakt ist wichtig, um Fahlströms Arbeiten nicht allzu einfach als Pop-Art verbucht zu sehen, etwa wenn seine Textarbeiten, zwei von Band laufende, Dada-artig collagierte Radiostücke und die bekannten LSD/Esso-Schilder zueinander in Beziehung gesetzt werden. Denn die Einflüsse reichen vom Surrealismus über präkolumbianisch-mexikanische Bildrollen bis zur drastischen Dramatik Artauds oder dem Living Theater; von der Musique concrète bis hin zu John Cages komplexer Kunstpraxis.

Auf Cage und dessen Umfeld bezog sich eine ganze Reihe so genannter progressiver KünstlerInnen, was sich etwa in der legendären New Yorker Happening-Reihe „9 Evenings: Theatre and Engeneering“ von 1966 als techno-euphorischer Aufbruch der Spätmodernen manifestierte. Doch auch bei diesem legendären Weihespiel von künstlerischer Moderne und dem Modernisierungsversprechen der Bell-Lab-Ingenieure blieb Fahlström – gegenüber den Stars Robert Rauschenberg, Frank Stella oder Yvonne Rainer – ein narrativ-politischer Eigenbrötler: Europäer halt.

Sein in Kollaboration mit dem österreichischen Filmkünstler Alfons Schilling gedrehter Kurzfilm „Mao-Hope March“ zeigt eine inszenierte Parade von Demonstranten, die Schilder mit Bildern von Mao und Bob Hope vor sich hertragen. Die Performance begleiteten Interviews, die ein Radiojournalist mit PassantInnen führte. Bob Hope kennen die meisten, doch wer ist der andere Typ? Die Frage nach dem Glück und später auch dem Unglück mündet in „Bob Hope for president“ und „Bing Crosby als Vize“ – ein Witz wie später die Kandidatur von Ronald Reagan.

Die vom Kodirektor der letzten Documenta, Jean-François Chevrier, zusammen mit Manuel J. Borja-Villel vom Museu d'Art Contemporani Barcelona sowie der engagierten Witwe Sharon Avery-Fahlström erarbeitete und vor Ort von Dirk Snauwaert betreute Wanderausstellung muss viele der oftmals feingliedrigen Arbeiten anhand von Fotos rearrangieren. Die Dokumentation von Installationsweisen etwa der 1964 fertig gestellten Arbeit „Young Dr. Benway“ liegt aus, um die von Fahlström beabsichtigten Varianten studieren zu können. Schaniere aus Paketklammern, Puzzleteile, dominoartige Würfel oder Plexiglasteile mit Magnetbefestigung ließen Interaktion durch das Publikum zu. Da jetzt die fragilen Werke nicht mehr angerührt werden dürfen, übertrugen einige Designstudenten Fahlströms Arbeiten auf den Computer. Nun ist Interaktion möglich, ohne die frisch restaurierten Bilder bewegen zu müssen. Fahlströms lang gehegte Multiple-Idee kam außer im Fall der „Scetch for World Map Part I“, die dem linken Magazin Liberated Guardian 7.000-mal beigelegt war, über den Prototyp nie hinaus. Erst durch die Übertragung der Aktionstafeln im Stil von Monopoly in eine Software lassen sich diese Arbeiten billig kopieren und für alle bewegen.

Immer wieder erinnern klug aufbereitete Materialien an Fahlströms Werkstattprozess. Exemplare aus seiner Bibliothek und Politschriften beispielsweise zu Lateinamerika, aus denen er seine politische Kartierungen herausentwickelte, liegen in Vitrinen vor den späteren endgültigen Karten-Werken aus. Fahlström musste sein Datenmaterial mühsam zusammentragen. Seine popfarbenen Weltkarten fassen eine sich globalisierende Ausbeutungsökonomie in Comic-hafte Piktogramme, wobei die einzelnen Komplexe wie Puzzleteile aneinander gefügt wirken wie etwa bei „Garden – A World Model“ von 1973. Man muss diese Arbeiten lesen, was nicht nur den Text meint, sondern auch die narrativen Bildfolgen im Stil von Schulbuchgrafiken, MAD-Heften oder der Comix des anarchistischen Grafikers Robert Crumb. Fahlströms ausgeschnittene Comix-Hefte liegen in Vitrinen aus. Durch die Leerstellen und Löcher in den Seiten sieht man hindurch.

Der „Wechsel von Lesbarkeit und Undurchschaubarkeit“, so sein großer Fan und entfernter Künstlerkollege Mike Kelley, „spiegelt Fahlströms geopolitische Ansichten wider, die auf Dezentralisierung und Selbstverwaltung ausgerichtet waren“. Seine verschwörungstheoretisch aufgefüllten Historienbilder und Weltkarten dramatisieren Information und erschüttern die gängige geopolitische Repräsentation.

Fahlström zeichnet einen Bomberpiloten, der vom Einsatz über Vietnam kurz für einen Sprung in den Swimmingpool zurückkehrt, um dann wieder unlöschbares Napalm-Feuer abzuwerfen. Oder er skizziert den Skandal einer US-Entwicklungshilfe, die zu 85 Prozent an den Einkauf US-amerikanischer Produkte gebunden ist. Obgleich die USA Allendes Chile bekämpften, schütteln zwei Kriegsschiffe ihre aus dem Bug ragenden Hände, wodurch über ihnen der diplomatische Eisblock schmilzt: Die Militärs hielten heimlich gemeinsame Manöver ab, um nach dem Sturz des Sozialisten wieder offen zu kooperieren.

Ist das Imperium auszuhalten? Am Ende – doch dieser Schlusspunkt ist durch den Krebstod eher willkürlich gesetzt – steht bei Fahlström die düstere „Night Music“-Serie mit vier Szenarien zum Nuklearunfall, zur Krebsepidemie, zum Moloch Stadt und zum Welternährungswettrennen. Dazu ausgestellt sind Skizzen und Notizen in Büchern von Trakl, Lorca, Pietri und Plath, die der junge Student Mike Kelley zum Glück noch in einem Hotel fand, wo sie der von ihm zu einem Vortrag genötigte Fahlström hatte liegen lassen. In „Night Music“ verbinden sich klare politische Statements mit einer amorphen Bildersprache und schattiger Poesie. Seattle ist da noch weit weg von Stockholm.

Bis 26. Mai in Lyon-Villeurbanne (www.i-art-c.org); Katalog 48 €; brosch. Essay von Mike Kelley 8 €,s. a. www.bawag-foundation.at

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen