: Verbieten verboten
Tabus passen eigentlich nicht in eine aufgeklärte Welt. Trotzdem ist allenthalben die Rede davon. Und gibt es nicht sinnvolle Tabus – etwa im deutsch-jüdischen Verhältnis?
Was meinte Angela Merkel nur, als sie nach dem Erfurter Amoklauf folgende Meinung äußerte: „Die Schwelle, Gewalt anzuwenden, scheint zuzunehmen. Gewalt muss tabuisiert werden.“ Meinte sie statt Schwelle Welle oder statt zuzunehmen abzusinken? So unklar die Prämisse, so eindeutig die Schlussfolgerung: Ein Tabu muss her.
Welchem Politiker man sich auch zuwendet, überall die Forderung nach Tabus – oder, ganz im Gegenteil, die Forderung, entschlossen gegen Tabus vorzugehen. Innenminister Otto Schily beispielsweise will ganz entschieden die Fragen der Zuwanderung und des Asyls ganz ohne Tabu (sprich elementare menschenrechtliche Erwägungen) diskutieren, wobei ihm Genosse Wiefelspütz mit der Bemerkung sekundiert, dass die Regelanfrage beim Verfassungsschutz anlässlich von Einreisen nach Deutschland kein grundsätzliches Tabu mehr darstelle. Das geht entschieden zu weit, denn welchen Nutzen könnte ein relatives Tabu noch stiften?
Tabus sind ein kostbares Gut, sie drohen zu verschwinden, wie aus dem erschreckten Ausruf eines Kommentators entnommen werden kann: „Ist Rot-Rot noch tabu? Auch bei der PDS ist das Thema kein Tabu mehr.“ Das Wort Tabu, das Ethnologen vor gut hundert Jahren aus der Südsee mitbrachten, erwies sich insofern als nützlich, als es einen Sachverhalt beschrieb, für den es bisher kein Wort gegeben hatte. Tabu ist, was man nicht tun, worüber man nicht einmal reden darf. Nicht darf – im Idealfall, wenn das Tabu wirklich funktioniert, nicht einmal kann.
Vor dem Siegeszug des Wortes Tabu musste man zu Notbehelfen greifen. So heißt es, mitten im Zeitalter der Aufklärung, im preußischen Allgemeinen Landrecht unter Paragraf 1069: „Sodomitierey und andere dergleichen unnatürliche Sünden, welche wegen ihrer Abschäulichkeit hier nicht genannt werden können, erfordern eine gänzliche Vertilgung ihres Andenkens.“ Die Aufklärungsjuristen hatten bei ihren verdienstvollen Bemühungen übersehen, dass Sprach- und Denkverbote nicht per Gesetz verhängt werden können. Sie sind einfach Bestandteil einer Kultur und unterliegen deren Wandlungen. Sie belegen eine ganze Sphäre, die des Sakralen, der Sexualität und des Todes eben, mit dem Tabu. „Ficken“ in den Mund zu nehmen, war noch vor einer Generation tabu, jetzt gehört es zum Sprachgebrauch auch der besseren Gesellschaft.
Tabus herrschen sich – anders als Normen oder Konventionen – den Mitgliedern einer Gesellschaft mit elementarer Gewalt auf. Tabus wirken „von innen“. Es war dieser Sachverhalt, der Dr. Freud dazu brachte, Tabus mit den Vorstellungen von Zwangsneurotikern zu vergleichen. Die Pointe von „Totem und Tabu“: Was wir mit besonderer Intensität begehren, tabuisieren wir. Und wenn das Begehren übermächtig wird, entlädt es sich in Zwangshandlungen.
Noch im heutigen politischen Sprachgebrauch wird deshalb so gerne zum Begriff des Tabus gegriffen, weil ihm nach wie vor etwas anhaftet vom Schutz der Heiligkeit vor dem Profanen, weil es eine Vorstellung oder eine Idee der allgegenwärtigen Kommunikation entzieht. Die Rede vom Tabu schwächt sich zunehmend ab, sie umschreibt heute den Versuch, für bestimmte Felder des Politischen eine Art negativer Konvention durchzusetzen, diese Themen aus der Diskussion zu halten. Ist das nun gut oder schlecht?
Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkten in der deutschen Gesellschaft solche negativen Konventionen vor allem bei der Weigerung, über alles zu reden, was mit dem Mord an den europäischen Juden zusammenhing. Es gibt Philosophen wie Hermann Lübbe, die die Befolgung dieses „Tabus“ in den Fünfzigern als gänzlich unumgänglich ansahen. Das Beschweigen der Vergangenheit sei Voraussetzung für einen seelischen Heilungsprozess gewesen, der schließlich den Wiederaufstieg Deutschlands ermöglicht habe. Die 68er sahen das bekanntlich anders, und die Wirklichkeit hat ihnen Recht gegeben. Das Verdrängte kehrte zurück. Für die demokratische Kultur in Deutschland hat sich der Tabubruch schließlich segensreich ausgewirkt.
Soll es heute im Verhältnis der Deutschen zu den Juden respektive zum Staat Israel Tabus geben? Hier sollten wir differenzieren. Gänzlich unannehmbar scheinen mir Tabubrüche der Art, wie sie gegenwärtig im Jüdischen Historischen Museum in New York zu sehen sind: Fotos beispielsweise, auf denen KZ-Opfer als Material für Collagen dienen, auf denen sich der Künstler selbst inszeniert. Diese Art von Tabubrüchen verhöhnt die Opfer, ohne irgendetwas zur Aufklärung über die Verbrechen beizutragen. Sie nimmt den Toten ihre Würde.
Ganz anders verhält es sich bei antijüdischen Klischees und Stereotypen, die in Deutschland viel verbreiteter sind, als wir gemeinhin annehmen. Sie zu tabuisieren ist falsch, denn nur, wenn sie offen geäußert werden können, ist Aufklärung über den Antisemitismus möglich. Falsch war es deshalb, einen Bürgermeister zur Unperson zu machen, der meinte, das Defizit im städtischen Haushalt sei nur zu schließen, wenn man „ein paar reiche Juden erschlage“. Dumpfheit muss ans Tageslicht, sonst könnten wir noch dem Trugschluss erliegen, in einem Land wie Polen, wo es noch judenfeindliche Redewendungen und Sprichwörter zuhauf gibt, sei der Antisemitismus endemisch, bei uns, wo sich die Witze hinter vorgehaltener Hand zugeraunt werden, sei alles in Ordnung.
Soll man sich mit Norman Finkelsteins Behauptungen, jüdische Weltorganisationen hätten KZ-Opfern Gelder vorenthalten oder sie hätten bei den Verhandlungen über die Entschädigung der Zwangsarbeiter die Zahl der überlebenden jüdischen Opfer viel zu hoch angesetzt, auseinander setzen? Oder soll man das Thema tabuisieren aus Angst vor Beifall aus der rechtsradikalen Ecke? Natürlich muss man sich mit ihm beschäftigen, sonst wuchern sie als Fama weiter. Der Historiker Ulrich Herbert hat dies in vorbildlicher Weise getan, Richtiges von Falschem getrennt und damit ein Stück Aufklärungsarbeit geleistet.
„Holocaust“ ist ein sprachlicher Euphemismus, ein Vermeidungswort, eine negative Konvention, die es uns erlaubt, vom Mord an den europäischen Juden zu sprechen, ohne ihn beim Namen zu nennen. Er ist einfach „die Katastrophe“, die über uns „im Jahrhundert der Barbarei“ hereingebrochen ist. Statt über den „Holocaust“ zu philosophieren, sollten wir uns weiter dem mühseligen Geschäft widmen, über das genaue Warum und Wie des Mordes an den Juden historische Fakten ans Licht zu fördern. Dazu gehört – als elementare Voraussetzung – der historische Vergleich und die historische Einordnung.
Es führt gänzlich in die Irre, wenn von jüdischen wie christlichen Wissenschaftlern die Einzigartigkeit des Mords an den Juden postuliert, der Diskussion entzogen, zum Tabu erklärt wird. Heraus kommt nur die Konkurrenz der Opfer und der Run auf die knappe Ware Aufmerksamkeit. Deshalb: Vorsicht bei dem Wort Tabu! CHRISTIAN SEMLER
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