: Generation Möllemann?
Mit seinem Generalangriff auf Gutmenschen und 68er will der stellvertretende FDP-Vorsitzende keineswegs Ewiggestrige umwerben – sondern künftige Generationen
Als Gerhard Schröder beim Regierungsumzug 1999 überschwänglich „meine Berliner Republik“ begrüßte, da verband er damit die Gewissheit, dass diese Veränderung mit einem Generationenwechsel verbunden war. Das Ende der Ära Kohl sollte das Feld frei machen für die „Generation Berlin“, deren Angehörige der Soziologe Heinz Bude bereits auf der Hinterbühne in den Startlöchern sah, während die Vorderbühne gerade mit einigen Jahren Verzögerung von den 68ern eingenommen wurde. Für die Generation Berlin bildete die Bonner Republik ein abgeschlossenes Stück Geschichte, einen Puffer, der eine zivilisatorische Distanz zur nationalsozialistischen Vergangenheit schafft. Daraus leitete Bude die Aufgabe ab, „die Berliner Republik jenseits vergangenheitspolitischer Alarmreflexe zu begründen“.
Seit vier Wochen ist der stellvertretende FDP-Vorsitzende Jürgen W. Möllemann dabei, dem Gründungsakt seinen ganz eigenen Stempel aufzudrücken – und seiner Partei damit einen fragwürdigen Platz in der Berliner Republik zu sichern. Mit seinem untrüglichen Gespür für die profilierende Wirkung der Provokation hat er die „Moralkeule“ Auschwitz in seine Hände genommen und sie gegen die „zwei Organisationen“ in Deutschland geschwungen, die für ihn die dominante Rolle in der Auseinandersetzung um die Politik Israels spielen: die Grünen und den Zentralrat der Juden. Die Grünen, weil sie „ihre friedenspolitischen Grundsätze verraten“ haben; und den Zentralrat, weil der ihn „seit geraumer Zeit – offen und verdeckt – des Antisemitismus bezichtigt“.
Beide sind aus unterschiedlicher Perspektive Exponenten eines bundesrepublikanischen Selbstverständnisses, das sich gegen die Verdrängung des Nationalsozialismus etablierte und die „Lehren aus Auschwitz“ zur Grundlage aktueller Politik nimmt. Als solche sind sie nicht nur dem Chef der deutsch-arabischen Gesellschaft, Möllemann, ein Dorn im Auge. Seit dem Historikerstreit der 80er-Jahre wird diese Haltung als Political Correctness, als „moralisches Überlegenheitsgetue“ angefeindet, das, wie Martin Walser 98 in seiner Paulskirchen- Rede beklagte, ihren Opfern diskursive „Rechtfertigungszwänge“ auferlege.
Während es Walser noch darum ging, sich aus der kollektiven Verständigung über die Vergangenheit quasi auszuklinken und sie dem individuellen Gewissen anheim zu stellen – er also eher defensiv argumentierte –, ist nun Möllemann einen Schritt weiter gegangen. Er hebt die Kontroverse in den politischen Raum und eröffnet absichtsvoll den Streit um die Deutungshoheit. Längst hat sich der Streit von seinem politischen Ausgangspunkt – der israelischen Regierungspolitik – gelöst und unter dem liberalen Segel der freien Meinungsäußerung hat Möllemann Kurs auf den Bauch der Massen genommen: „Noch immer hat die politische Klasse in Deutschland aus dem Ereignissen in anderen Ländern nichts gelernt, was geschieht, wenn sie die Kluft zwischen sich und den Menschen in ihrem Volk immer größer werden lässt“ – das ist die Programmatik des Populismus in seiner komprimiertesten Form.
Doch tut Möllemann und der FDP Unrecht, wer nun den Bogen von den nationalliberalen Grundströmen der Fünfzigerjahre zu seiner aktuellen Positionierung schlägt. Eine Revision der Vergangenheit ist nicht sein Anliegen, er will keine Ewiggestrigen umwerben. Er hat die künftigen Generationen im Visier. Schon früher hat Möllemann sich als Sofortauslöser vergangenheitspolitischer Alarmreflexe betätigt und Erfolg gehabt. Im nordrhein-westfälischen Wahlkampf provozierte er mit einem Hitlerplakat und erregte die Aufmerksamkeit für seine bildungspolitischen Vorstellungen. 13,3 Prozent der 18- bis 24-Jährigen, die seinerzeit die FDP wählten, werden ihn in der Einsicht bestärkt haben, mit dem öffentlich kritisierten Vorgehen nicht falsch gelegen zu haben.
Die Generation Berlin, so schreibt Bude, ist eine „Gemeinschaft der Haltung, die sich einem Traditionalismus der Kritik entwinden will“. Und zu dieser Gemeinschaft darf sich Möllemann, wenngleich viel älter, genauso zählen, wie seinerzeit die Altvorderen Grass und Habermas den 68ern zugerechnet wurden. Diese Gemeinschaft eint die Ablehnung eines gesellschaftlichen Begründungszwangs, der den Einzelnen vornehmlich unter dem Blickwinkel der Gemeinwohldienlichkeit betrachtete. Mit diesem Gutmenschentum der 68er verbinden sie die lebensgeschichtliche Erfahrung, immer auf der Seite der Unterlegenen zu stehen. „Die Ablehnung gegen die Vorgängergeneration mit ihrer Moralhoheit war für uns früh eine entscheidende Lebensmaxime“ schrieb Florian Illies über die „Generation Golf“.
Wie keine andere Partei hat die FDP dies in ihr Profil verarbeitet. Der Habitus des „anything goes“ beflügelt sie zu einer Politik der Selffulfilling Prophecy: 18 Prozent, Kanzlerkandidatur, die Wahl wird zum „Wetten dass“, auf ein Ergebnis, das damit Eigenwert gewinnt. Da ihnen ihre bürgerlich liberalen Wurzeln nie zu solcher Größe verhelfen können, saugen die Möllemänner und Westerwelles Sentiments und Ressentiments im Volke auf, um sich solchermaßen aufzublasen. Wer bei Westerwelle nach dem persönlichen Antrieb dieser Politik forscht, wird schnell auf die abgrundtiefe Ablehnung der 68er stoßen, die seine politische Jugend in den Achtzigerjahren prägten und gegen die er jetzt um die Vorherrschaft kämpft.
Seit sie an der Regierung sind, haben diese 68er ihre Moralhoheit zum festen Bestandteil ihrer Regierungspolitik ausgebaut. Wo der Verweis auf Auschwitz gleichermaßen dazu herhalten konnte, eine militärische Intervention zu rechtfertigen, wie er Jahre zuvor die militärische Zurückhaltung Deutschlands begründete, geht es nicht mehr nur um die Verständigung über die normativen Grundlagen der Politik. Diese werden vielmehr zu Zwecken der Herrschaftssicherung instrumentalisiert. Wie kaum ein Zweiter hat es der Bundesaußenminister Joschka Fischer verstanden, auf der Klaviatur von Moral und Politik seine ganz persönliche Melodie zu spielen. Den vorläufig letzten Akkord schlug er gegen Jürgen Möllemann an: Falls sich diese FDP bei der Bundestagswahl durchsetze „werden wir die Republik nicht wiedererkennen“. Das war das bekannte „Wehret den Anfängen“, nur dass über dessen zeitgemäßes Ende, darüber, wie groß die Gefahr ist und welches Gesicht sie im Jahre 2002 hat, anscheinend kein Konsens mehr herrscht.
Möllemann in die vertrauten Muster des Rechtsradikalismus einzuordnen ist eher ein Versuch, der Verunsicherung Herr zu werden, die sein Vorstoß ausgelöst hat. Welche Bedeutung hat die Geschichte noch für die bundesdeutsche Gesellschaft und die aktuelle Politik? Darauf hat Möllemann keine Antwort gegeben – sein Vorgehen hat aber klar gemacht, dass eine Antwort von den Generationen gefordert ist, deren Lebensgefühl er politischen Ausdruck verleihen will – und die für sich in Anspruch nimmt, dieses Land einmal regieren zu wollen. DIETER RULFF
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