: Bolsa-Escola für den Süden
Um für Unterschichten den Schulbesuch attraktiver zu machen, geht Brasiliens Regierung neue Wege. Sie will ein flächendeckendes Schülerstipendium einführen
SÃO PAULO taz ■ Jacira Marinho hat sieben Kinder. Die 36-jährige Putzfrau wohnt in einem Armenviertel von Itapecerica da Serra im Großraum São Paulo. Seit einem knappen Jahr erhält sie von der brasilianischen Regierung einen Haushaltszuschuss von 18 Euro im Monat – so viel beträgt der Höchstsatz des 2001 eingeführten Schulstipendiums Bolsa-Escola für drei Kinder im Alter von sieben bis 15 Jahren. Brasiliens Regierung preist das Programm als „größtes Sozialprojekt aller Zeiten“.
„Als ich im Fernsehen zum ersten Mal von dem Programm hörte, hätte ich nie gedacht, dass wir daran teilnehmen könnten“, erinnert sich Jacira Marinho. Das Geld, das sie per Magnetkarte bei einer örtlichen Bankfiliale abhebt, ist ein willkommener Zuschuss für die Haushaltskasse – wie ihr Mann verdient sie gerade den gesetzlichen Mindestlohn von 80 Euro. Eine Schuluniform kostet 17 Euro, für Schulmaterial veranschlagt sie noch einmal vier Euro pro Kind und Monat. Ihr 19-jähriger Sohn Roberto hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Auch wenn seine Geschwister die Grundschule absolvieren sollten, sind ihre Aussichten wegen der grassierenden Arbeitslosigkeit nicht viel besser.
In der nahe gelegenen Grundschule ist fast jedes dritte Kind Stipendiat. „Seit dem Beginn des Programms sind die Fehlzeiten deutlich zurückgegangen“, berichtet Schulleiterin Josefa Maria de Souza zufrieden. Verpassen die Stipendiaten mehr als 15 Prozent des Unterrichts, wird das Geld gestrichen.
Als eine der ersten Gemeinden in Brasilien hat Itapecerica die ihr zustehende Quote von Stipendiaten registriert – genau 3.296 Kinder. „Doch die Nachfrage ist noch lange nicht befriedigt“, berichtet die pädagogische Beraterin Sibeli de Carvalho, die für die Umsetzung des Programms verantwortlich ist. Lege man die Aufnahmekriterien zugrunde, nach denen das Pro-Kopf-Einkommen einer Familie unter 36 Euro liegen muss, seien erst zwei Drittel der eigentlich Bezugsberechtigten erfasst.
Als „Schritt in die richtige Richtung“ bezeichnet Mario Volpi vom brasilianischen Unesco-Büro das Regierungsprogramm. 10,7 Millionen armen Kindern einen Schulabschluss ermöglichen – das sei eine ausgezeichnete Idee. Allerdings könne das Stipendium als isolierte Maßnahme nur wenig bewirken. Ebenso wichtig sei etwa eine gute Gesundheitsversorgung. Im Vorfeld seien die Details des Programms zu wenig und kaum parteiübergreifend diskutiert worden.
Jetzt, vier Monate vor der Präsidentenwahl, sind 8,5 Millionen Kinder erfasst – die restlichen 2,2 Millionen sollen in Kürze folgen. Dieses Timing ist nicht zufällig auf den Kandidaten des Regierungslagers, José Serra, zugeschnitten. Dabei geht leicht unter, dass das Stipendium auf Cristovam Buarque von der Arbeiterpartei PT zurückgeht, der als Gouverneur von Brasília von 1995 bis 1998 für das erste erfolgreiche Bolsa-Escola-Pilotprogramm verantwortlich war.
Für Buarque ist das jetzige Stipendium „viel zu niedrig“. Er fordert, pro Familie solle die Regierung durchschnittlich 42 Euro bereitstellen, wobei dieser Betrag in einer Großstadt wie São Paulo noch nicht ausreiche. Der erfahrene Pädagoge, der bereits seit 15 Jahren an der Methodik der Bolsa-Escola arbeitet, wirbt auch auf UN-Konferenzen für dieses Kozept. Er ist davon überzeugt, dass effektive Programme im Interesse selbst der reichen Oberschichten, aber auch der Industrieländer liegen. „Wenn die Armut zurückgeht, lassen auch Landflucht und Migration nach“, sagte Buarque zur taz. Mit dem Geld, das ein Soldat zur Sicherung der US-mexikanischen Grenze koste, könne man 1.000 jungen Honduranern den Schulbesuch garantieren.
In mehreren Staaten Lateinamerikas laufen bereits ähnliche Programme, afrikanische Länder wie Mosambik oder Angola ziehen nach. Werden die Schwächen des brasilianischen Regierungsprogramms vermieden, dann scheint für Millionen ein Weg aus der Armut möglich. Cristovam Buarque nennt dies die „zweite Abschaffung der Sklaverei.“ GERHARD DILGER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen