nebensachen vom checkpoint: Reisen in Tschetschenien
Drei gute Freunde
Der russische Major kennt kein Erbarmen. Befehl ist Befehl, Rolle, Rang und Regen sind Nebensache, sagt seine versteinerte Miene. Auch der Vertreter der Exekutive im besetzten Tschetschenien muss aus dem Wagen steigen und die Kontrolle über sich ergehen lassen. Erstmals seit Tagen zeigte sich ein Uniformierter derart unnachgiebig. Bisher hatten sich immer Mittel und Wege eines Interessenausgleichs finden lassen. Sei es eine Flasche Bier, ein Taschengeld, eine Flasche Wodka.
Der Major ist unterdessen mit allem versorgt. Schon sein Äußeres signalisiert: Ich komme aus einem anderen Stall. Aus dem Geheimdienst, FSB, nämlich. Der Armeeoffizier neben ihm verstärkt den Kontrast. Er sieht aus wie ein notorischer Schulschwänzer, der gerade aus dem Bett gefallen ist. Jener Menschenschlag ist es indes, der Interdependenzen sofort erkennt und Dialoge der Gegenseitigkeit meisterlich beherrscht.
Wir wären auch diesmal durchgekommen, wenn sich unser tschetschenischer Repräsentant aus Sorge um den fremden Besuch weniger wichtig gemacht hätte. Der Major schaut in die Papiere, sein Antlitz hellt sich auf, die Beförderung rückt in allernächste Nähe: „Schaut her, wen haben wir denn da, o, là, là, einen Spion.“ Er sprintet in den Unterstand und ruft im Stab der russischen Truppen an. Der Verbindungsmann ist auf Sitzung. Eine glückliche Fügung. Warten. Ungeduldig blättert der Major in Aufzeichnungen und Papieren.
Im Kofferraum liegt der sperrige Kasten mit dem Satellitentelefon, den er noch nicht entdeckt hat. … Vielleicht …? Tatsächlich, der Major wird hellhörig. … Kann man damit …? Selbstverständlich, Genosse Major. Ausprobieren?
Das Telefon wird auf dem Kühler aufgebaut. Der gesamte Unterstand hat sich inzwischen versammelt. Aus dem Major wird Alexej, ein zutraulicher Zeitgenosse. Ein anderer nähert sich besorgt mit einer Regenpelle, um das Telefon vor Feuchtigkeit zu schützen. Ehefrau, Mutter, Papa, Söhne und Töchter empfangen seit Monaten ein erstes Lebenszeichen von ihren Angehörigen. Riesige Freude – auf beiden Seiten. Die Anfrage nach unserer Identität beim Stab hat Alexej umgehend als Irrtum storniert. Ein Liter Wodka, Käse und verschiedene Süßigkeiten haben sie im Handumdrehen auf die Kühlerhaube gezaubert. Ein Toast jagt den nächsten. Die russisch-tschetschenisch-deutsche Freundschaftsgesellschaft ist beschlossene Sache. Alexej entschuldigt sich für sein anfängliches Misstrauen, aber woher sollte er wissen … Schwamm drüber, keiner ist unfehlbar. Die Nachsicht erleichtert ihn. Die kulinarischen Reste gibt er als „humanitäre Hilfe diesmal in andere Richtung“ mit auf den Weg. Es ist spät geworden, in einer Stunde beginnt die Ausgangssperre, und bis zum Nachtlager sind es noch zwei Autostunden. Alexej klärt die Lage und ruft die Posten auf der Strecke an: „Durchlassen! Unsere kommen.“
Es klappt reibungslos. Fazit: In Tschetschenien kann sich jeder frei bewegen, nur die Zivilbevölkerung nicht.
KLAUS-HELGE DONATH
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