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village voiceWohnzimmer zur Disco: Surfs „High Tide & Low Tide“

Alles, was nicht angeschnallt ist

Joe Tabu und GOD sind Brüder. Eigentlich heißen sie Florian und Gregor Dietz. Auch ihr erstes gemeinsames unter dem Projektnamen Surf veröffentlichtes Album „High Tide & Low Tide“ hat viel von einem Familientreffen, denn hier kommen alle zusammen, mit denen Joe Tabu in den letzten Jahren gearbeitet hat. Tabu hatte 1997 die Idee, befreundete Bands in sein Wohnzimmer in der Schönhauser Allee zu laden, von Mina bis Barbara Morgenstern. Es dauerte nicht lange, da entdeckten MTV und Viva die Wohnung Tabus, drehten Lifestyle-Reportagen und hypten die „Wohnzimmerszene“. Diese bestach vor allem in ihrem enormen Kontrast zu den Technoruinen des Post- Mauerfall-Berlins.

Verewigt wurden die Slackpopper und Rehblickrockerinnen auf Compilations wie „Musik fürs Wohnzimmer“ und „Santa Monika“. Beide Alben wurden von Tabu zusammengestellt und sind auf dem Berliner Label Monika Records erschienen. Gudrun Guts feiner Laden veröffentlicht wiederum diverse Alben von Leuten, die schon auf Tabus Couch gesessen haben: Komeit, Contriva und auch die mittlerweile zur Industrie gewechselten Quarks.

Als Surf haben Joe Tabu und GOD nun das erst dritte Debüt-Doppel-Album der Musikgeschichte aufgenommen. Vor ihnen waren nur Frankie Goes To Hollywood und Alexandra. Surf aber brauchen diesen Raum auch für konzeptuelle Zwecke – und eben für ihre Freunde.

Ihr Konzept: Auf der ersten Hälfte des Albums gibt es Disco-Pop fürs Radio, also „High Tide“. Dagegen dimmen Tabu und GOD auf „Low Tide“, man ahnt es schon, kräftig runter. Das Familientreffen feiern sie besonders auf der munteren Hälfte sehr exzessiv. Elke von Paula und Tara von den Space Hobos singen Background-Chöre, Niels von den Quarks spielt Bass, Miss Megatrance von Madonna HipHop Massaker performt einen potenziellen Radiohit wie „Join In“, und Minas Christoph Hein zeichnet bei Tracks wie „Falling Into The Fountain“ oder „Bed Of Sand“ für die „Vibes“ verantwortlich. Die meisten Stücke aber singt Achim Degen. Der hatte mal einen schrecklichen Soulpop-Hit mit der Band Six Was Nine („Drop Dead Beautiful“), zerdehnt hier aber die Zeilen zu beseelten Melo-Figuren.

Die Sounds von Surf klingen sehr geschmacklos in ihrem puren „Wir bedienen uns bei allem, was nicht angeschnallt ist“. Trotzdem will man sie immer wieder hören. Pet Shop Boys, Sparks und Cher, zwischen der Musik dieser Gesellen und Gesellinnen reisen Surf herum. Auf „Low Tide“ kommen Air dazu. Und noch ein Name darf nicht fehlen: Soft Cell. In deren Vorprogramm traten Surf vor einiger Zeit auf. Offensichtlich haben die Gebrüder Dietz in jeder Hinsicht Großes vor.

CHRISTOPH BRAUN

Surf: „High Tide & Low Tide“ (Home Records/Sony Music); Surf spielen am 6. 7. im Casino, Mühlenstr. 26–30, Friedrichshain

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