: Durch die Kindheit ein Riss
von JENS KÖNIG
Sie saß in der Gauck-Behörde in der Otto-Braun-Straße in Berlin. Sie las in ihrer Stasi-Akte die Wahrheit über ihr Leben, rund 100 Seiten Papier. Sie durchlebte ihre Kindheit und Jugend ein zweites Mal. Aber das, was in dem schmucklosen Lesesaal des Stasi-Unterlagen-Labyrinths vor ihr ausgebreitet lag, war nur die eine Wahrheit.
Die andere Wahrheit befindet sich in ihrem Kopf, in ihrem Gedächtnis, in ihrem Unterbewusstsein, manches ist verdrängt, anderes völlig vergessen. Oft hat die eine Wahrheit mit der anderen nichts zu tun. Es zerreißt ihr darüber den Kopf. „Ich bin völlig sprachlos, wütend und traurig“, so wird sie es später beschreiben. „Ich muss Dinge erklären, die ich nicht erklären kann.“ In die Gauck-Behörde ging sie mit schlotternden Knien. Als sie wieder herauskam, konnte sie zwei Tage lang mit niemandem reden.
Zwei Wochen später hat Angela Marquardt für das, was sie gelesen hat, Worte gefunden. Aber will sie noch jemand hören? Ist nicht alles so wie immer? Es gibt eine PDS-Politikerin, die der Stasi-Mitarbeit verdächtig wird, es gibt eine IM-Verpflichtungserklärung, einen Decknamen, Treffberichte in den Akten und die Erklärung der Betroffenen, sich an die Verpflichtungserklärung nicht zu erinnern.
Dabei ist gar nichts so wie immer. Alles ist anders. Angela Marquardt, die PDS-Bundestagsabgeordnete, war erst 15 Jahre alt, als sie die Verpflichtungserklärung für die Stasi unterschrieb. In den meisten Zeitungsberichten wird diese Tatsache erwähnt, aber sie spielt keine zentrale Rolle. Der „Fall Marquardt“ wird in die Schublade zu all den anderen Fällen gelegt.
Die erregte Öffentlichkeit hat ihr moralisches Urteil gefällt: Auch mit 15 Jahren hätte sie wissen können, dass die Zusammenarbeit mit der Stasi ein Pakt mit dem Teufel war. Kaum einer glaubt Angela Marquardt, dass sie sich nicht erinnern kann, eine Stasi-Verpflichtungserklärung unterschrieben zu haben. Und ihr wird vorgeworfen, sich mit dieser Stasi-Geschichte nach dem Ende der DDR nicht auseinander gesetzt zu haben.
Ist das der Grund für diese unendliche Langeweile, die einen bei diesen Stasi-Fällen überkommt: dass die moralische Empörung immer schon da ist, noch bevor überhaupt die Geschichte erzählt ist? Hat es also gar keinen Sinn mehr, dass Angela Marquardt von sich berichtet? Oder muss sie ihre Geschichte nicht gerade deswegen erzählen, gegen die Langeweile? Nur um zu zeigen, dass es war, wie es war.
Aber wie war es? Angela Marquardt weiß es ja selbst nicht mal genau. Sie sitzt in der Küche ihrer Wohnung im Prenzlauer Berg. Vor ihr auf dem Tisch liegt ihr Handy. Sie wartet dringend auf einen Anruf ihres Anwalts. „Es ist schrecklich, wenn man sich nicht an alles in seinem Leben erinnern kann“, sagt sie. Sie spricht den Satz langsam aus, schwerfällig, als quäle sie sich mit seiner Last jede Nacht herum.
Dennoch behauptet Angela Marquardt trotzig, sie habe nie wissentlich für die Stasi gearbeitet. Da ist sie sich sicher. Hundertprozentig. „Ich kann micht nicht erinnern, auch nur einen Auftrag bekommen zu haben. Ich habe mich in keiner konspirativen Wohnung getroffen. Ich habe nach meinem Verständnis nicht mit der Stasi geredet, sondern mit meinen Freunden oder den Freunden meiner Eltern.“
Aber was bedeutet schon hundertprozentige Sicherheit, wenn man wie Angela Marquardt noch vor drei Wochen behauptet hat, nie eine IM-Verpflichtungserklärung unterschrieben zu haben. Ein paar Tage später hat sie diese Erklärung dann in ihrer Akte gefunden, von ihr selbst geschrieben, datiert vom 3. April 1987. „Zur Wahrung der Konspiration wähle ich das Pseudonym ‚Katrin Brandt‘ “, steht dort.
„Es ist meine Schrift“, sagt Angela Marquardt. „Aber ich kann mich nicht daran erinnern.“
Das sind wieder so Sätze, die sie quälen müssen. Die ahnen lassen, wie erschüttert sie ist. Sie muss plötzlich in den Akten lesen, dass die Stasi sie für ihre Pläne benutzt hat. Dass ihre Eltern der Stasi dabei geholfen haben. Dass Gespräche mit ihrem Freund Jörg sich in den Akten als konspirative Treffen wiederfinden. Dass Jörg nicht nur ihr Freund, sondern auch ihr Stasi-Führungsoffizier war.
Sie stellt dem ihre eigene Erinnerung entgegen. Sie wird das ganze Gespräch über nur von „Jörg“ reden. Das Wort „Führungsoffizier“ kommt ihr kaum über die Lippen. „Ich habe mich mit keinem Führungsoffizier getroffen“, sagt sie, „sondern mit Jörg, meinem Freund.“
Angela Marquardt trägt, in Erinnerung an ihre Punk-Zeit, wie fast immer ein schwarzes T-Shirt, schwarze Hosen und schwarze Schuhe. Ihre Haare stehen nach oben und sind gelb und grün gefärbt. Hier in der Küche ihrer Wohnung, wo sie gerade ihr Innerstes nach außen kehrt, wirkt ihr kleiner Körper noch schmächtiger als sonst. Ihre schwarzen Kleider sehen jetzt aus wie ein Schutzanzug, der sie vor Verletzungen bewahren soll.
Angela Marquardt ist damit beschäftigt herauszufinden, welche Wahrheit die richtige ist. Ihre eigene? Oder die in den Akten? Oder gibt es vielleicht auch eine Wahrheit, die genau dazwischen liegt? „Ich lese die Akten Tag für Tag, Stunde für Stunde“, sagt sie. „Ich will Aufklärung. Ich will wissen, was war.“ Sie trifft sich mit ihrer Mutter in Frankfurt (Oder), mit Freunden und Lehrern in Greifswald.
Für die IM-Unterschrift hat sie inzwischen eine Erklärung. Ihre Mutter hat ihr erzählt, dass ihr dieser Text diktiert wurde. Es sei eine Art Schweigeerklärung gewesen. Macht sie ihrer Mutter Vorwürfe? „Versuchen Sie es gar nicht erst“, antwortet Angela Marquardt. „Über meine Mutter rede ich nicht.“ Mit diesem Satz wird sie später noch ein paar Mal versuchen, ihr inneres Gleichgewicht zu halten.
Im Gedächtnis geblieben ist Angela Marquardt über die Verpflichtungserklärung nur ein Gespräch zu Hause, in der Küche der elterlichen Wohnung in Greifswald. „Ich wurde hereingerufen, meine Eltern saßen dort mit zwei Freunden. Ich kannte die Freunde, ich wusste, dass sie beim MfS arbeiten. Mir wurde erklärt, dass ich über die Besuche der Freunde bei uns zu Hause mit niemandem sprechen soll und dass ich sie in der Öffentlichkeit niemals grüßen darf.“
Ein paar Wochen vorher hatte Angela Marquardt einen der beiden Stasi-Offiziere, die jetzt in ihrer Küche saßen, im Bus gegrüßt. Er ging schließlich zu Hause bei ihnen aus und ein. Sie kannte auch andere Freunde der Eltern, die bei der Staatssicherheit arbeiteten. Sie kamen oft zu Marquardts nach Hause. Sie kamen zu Familienfesten, manchmal brachten sie Geschenke mit.
„Diese Treffen waren für mich normal“, sagt Angela Marquardt heute. „Sie waren Alltag. Sie begannen, als ich neun oder zehn Jahre alt war. Zwei Männer kamen öfter und haben mit meinen Eltern geredet. An diesen Tagen durfte ich keine Freunde mit nach Hause bringen und musste auf meine beiden jüngeren Geschwister aufpassen. Das war aber nichts Ungewöhnliches.“
Irgendwann bekam Angela Marquardt mit, dass die Männer bei der Staatssicherheit arbeiteten. Für sie war das normal. Von wegen Pakt mit dem Teufel. „Der Vater meines besten Freundes war beim MfS, der Vater meines Fußballkumpels auch. MfS war eben MfS. Es war eine Arbeitsstelle wie jede andere.“ In ihrem Umfeld habe keiner schlecht über die Stasi geredet.
Deswegen kann sie heute, wenn sie an das Treffen mit den Stasi-Leuten in der Küche zurückdenkt, nur sagen, dass es damals keine Bedeutung für sie hatte. „Es war nicht wichtig.“
Was Angela Marquardt zu dem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass die Treffen der beiden Stasi-Offiziere mit ihren Eltern auch einen dienstlichen Charakter hatten. Ihre Mutter, Lehrerin für Staatsbürgerkunde und Deutsch und nebenberuflich am Theater in Greifswald tätig, und ihr Stiefvater, der auch am Theater arbeitete, waren Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi. Davon erfuhr Angela Marquardt erst nach der Wende im Herbst 1989.
Überhaupt scheint es so, dass ihre Biografie und ihre Familienverhältnisse der Stasi geradezu ideale Anknüpfungspunkte dafür boten, die junge Angela Marquardt sehr frühzeitig für ihre Pläne einzuspannen. Bereits in der dritten Klasse hatte sie sich entschieden, Offizier der NVA werden zu wollen. Sie glaubte, so ihren Traum von einer Judo-Karriere verwirklichen zu können. „Beim Judo war ich ein anderer Mensch“, erzählt sie. „Hier zählte nicht, was einer mir vorschrieb, sondern was ich selbst zu geben bereit war.“
Aus Untersuchungen über die „Kaderarbeit“ der Stasi ist bekannt, dass das Ministerium für Staatssicherheit regelmäßig die Listen der jungen Berufsoffiziersbewerber nach potenziellen Kandidaten für eine Stasi-Mitarbeit durchging. Angela Marquardt dürfte dabei besonders aufgefallen sein. Sie war nicht nur politisch zuverlässig, sondern lebte auch in einem Elternhaus, in dem die Stasi quasi eine Außenstelle hatte. Ihre Mutter und ihr Stiefvater waren nicht nur IM, sondern pflegten mit ihren Führungsoffizieren ein freundschaftliches Verhältnis.
Daran musste die Stasi frühzeitig Gefallen finden. Dafür spricht auch, dass Angela Marquardts IM-Akte weit vor ihrer Verpflichtungserklärung 1987 beginnt. In diesem ersten Teil finden sich Einschätzungen ihrer Person, ihrer schulischen Leistungen, ihrer politischen Ansichten und ihrer Haltung zum MfS.
Als Angela Marquardts Eltern im Sommer 1987 aus beruflichen Gründen nach Frankfurt (Oder) ziehen, weigert sich das 16-jährige Mädchen mitzukommen. Sie will ihr Abitur in Greifswald machen und nicht mit dem Judo aufhören. Sie verkracht sich mit den Eltern, muss in ein Internat und bekommt einen Vormund. Es ist ein Kollege ihres Vaters – und ein IM, wie sie später erfährt. Auch andere Freunde der Eltern kümmern sich, weil es die Mutter so will, um die junge Angela. Einer, Jörg V., der Führungsoffizier ihrer Eltern, wird Angelas Freund – und ihr Führungsoffizier.
Jörg V. ist Mitte 20, ein lockerer Typ in Jeans und T-Shirt. Mit ihm kann Angela reden – über ihre Probleme in der Schule und im Internat. Sie besucht ihn zu Hause, isst mit ihm Abendbrot, spielt mit seinen Kindern. Manchmal holt er sie vom Sport ab. Dieses enge, freundschaftliche Verhältnis könnte darauf hindeuten, dass Angela Marquardt vielleicht doch für die Stasi gearbeitet hat, ohne davon zu wissen. Könnte – muss aber nicht.
Jörn Mothes hingegen hält das für eine schlüssige Erklärung. Bei der IM-Tätigkeit Jugendlicher habe die Stasi ihre Arbeit noch stärker als bei Erwachsenen auf die individuellen Lebensumstände der Betroffenen abgestellt. Dass eine IM-Akte angelegt worden sei, ohne dass Angela Marquardt formal in die Arbeit eines IM eingebunden war – das kann sich Mothes vorstellen. Aber auch er betont, dass es so sein könnte, ausgemacht sei das nicht. Er kennt schließlich nicht ihre Akte.
Mothes jedoch, im Gegensatz zu vielen anderen, weiß, wovon er redet. Der 39-jährige Theologe ist Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern und einer der Experten für jugendliche IM. „Wenn Angela Marquardt zu mir in die Konfliktberatung käme, würde ich sie nicht danach fragen, ob sie sich an die Verpflichtungserklärung erinnern kann“, sagt er. „Wer hat dieses minderjährige Mädchen in solch eine brutale Situation gebracht? Das ist die entscheidende Frage.“
Mothes wünscht sich, dass im Fall von Angela Marquardt mehr über die Eltern und den Führungsoffizier geredet wird. „Bei denen liegt die Schuld.“
Mothes berichtet von vielen Fällen, in denen unmündige, junge Menschen, die von der Stasi bewusst in die Abhängigkeit geführt worden sind, oft seelische Schäden fürs Leben davongetragen hätten. Er hält die Arbeit mit minderjährigen IM für eine Form des Missbrauchs. Vielen Jugendlichen sei der Prozess des Erwachsenwerdens unmöglich gemacht worden. „Diese jungen Menschen sind, auch wenn manche von ihnen zu Tätern wurden, zuallererst Opfer“, sagt Mothes.
Seelischer Missbrauch? Angela Marquardt zuckt in ihrer Küche zusammen. „Nein, missbraucht fühle ich mich nicht“, sagt sie zögernd, aber während sie spricht, arbeitet es in ihrem Kopf weiter. Scheut sie die Erkenntnis, weil sie dann darüber nachdenken müsste, wer sie missbraucht hat?
Über ihre Mutter redet sie nicht. Über ihren Stiefvater auch nicht. Und Jörg V., ihr Führungsoffizier, eine der Hauptfiguren ihrer Geschichte? Gesprochen hat Angela Marquardt mit ihm noch nicht. Warum nicht? „Ich werde es schon noch tun“, antwortet sie und schaut auf ihren Küchenfußboden. Warum hat sie es noch nicht getan? „Vielleicht möchte ich über die Gründe nicht sprechen?“
Die Mutter möchte mit der Presse nicht über ihre Tochter reden. Der Stiefvater auch nicht. Jörg V., der immer noch in Greifswald lebt, schweigt ebenfalls.
Die Mutter hat lediglich für den Immunitätsausschuss des Bundestages, der sich im September mit dem „Fall Marquardt“ befassen will, eine schriftliche Erklärung abgegeben. „Aus heutiger Sicht ist mir durchaus bewusst, dass dieser Schritt, ein fast noch Kind soweit in unsere Tätigkeit einzubinden und Druck auszuüben, unverantwortlich war“, schreibt sie.
Ist es andererseits nicht verständlich, dass Angela Marquardt sich nicht als Opfer fühlen will? Wäre das ihrer Situation angemessen?„Ich habe noch viel zu viele Fragen, auf die ich selbst keine Antwort weiß“, sagt sie. „Ich will erst herausfinden, was die Stasi mit mir gemacht hat, aber auch, was ich selbst gemacht habe. Vielleicht gab es einen Punkt, an dem ich hätte merken müssen, was mit mir gespielt wird.“
Sie ist die Einzige, die das herausfinden kann. Kein anderer, außer ihrem Anwalt, darf ihre Stasi-Akte vollständig einsehen. Der größte Teil ist der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Er stammt aus einer Zeit, als Angela Marquardt noch minderjährig war, und nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz ist die Veröffentlichung von Kinderakten verboten.
Sie ist überhaupt nicht gezwungen, über den gesperrten Teil der Akten öffentlich zu sprechen. Sie tut es trotzdem. „Ich bin bin nun mal nicht Lieschen Müller, die im Supermarkt arbeitet“, sagt sie. „Als Politikerin bin ich immer für Öffentlichkeit eingetreten, und was ich von anderen gefordert habe, bin ich jetzt auch selbst bereit zu leisten.“
Also redet sie über ihre Akte. Sie hält sie für widersprüchlich. Einerseits finden sich in ihr angeblich Hinweise, dass die Stasi sie lediglich abgeschöpft habe. Andererseits gibt es einige wenige Berichte über angebliche Treffen mit ihr. Diese Treffen bestreitet sie aber. Sie habe nur mit Jörg geredet, immer wieder, über alles Mögliche, davon finde sich vieles in den Akten.
Mit einem Bericht vom September 1989 kann sie überhaupt nichts anfangen. Darin berichtet ein Major Hille über ein Gespräch mit ihr, das sie rundweg bestreitet. In dem Bericht spricht „IMS Katrin Brandt“ über einen jungen Mann, der über Ungarn in den Westen flüchten wollte, sich dann aber anders entschieden hat und in die DDR zurückgekommen ist. „Ich habe versucht, diese Geschichte zu rekonstruieren. Ich habe mit Mitschülern von damals geredet, mit Freunden. Keiner weiß etwas“, sagt Angela Marquardt. Sie behauptet, sie kenne den jungen Mann nicht, sie kenne dessen Ungarn-Geschichte nicht. Sie habe mit einem Major Hille nie über eine solche Flucht gesprochen. „Ich war damals 18. Ich müsste mich erinnern, wenn es so gewesen wäre.“
Angela Marquardt behauptet nicht, dass die Akten lügen. Aber ihre Wahrheit sieht oft anders aus als die, die auf dem Papier steht. In der Akte stehe zum Beispiel, dass sie als Tramperin an der F 96 zum Treffen mit ihrem Führungsoffizier bestellt war. „Na klar saß ich in dem Auto“, sagt sie. „Aber nur, weil Jörg mich vom Judo abgeholt hat. Die Trainingshalle lag direkt an der F 96.“
Angela Marquardt muss aus den Akten aber auch zur Kenntnis nehmen, dass ihre Eltern gemeinsam mit Leuten von der Stasi ihre Zukunft planten. Nachdem ihr der Weg zum Sportoffizier verbaut war, weil die NVA keine Frauen dafür nahm, brachte die Stasi im Sommer 1989 gegenüber der Mutter ein Theologiestudium für die Tochter ins Gespräch. Angela Marquardt willigte nach anfänglichen Zweifeln ein.
Für die Stasi war es der Beginn eines perfiden Plans. Aus Angela Marquardt Akten ergibt sich, dass ihre Verpflichtungserklärung nach ihrem 18. Geburtstag erneuert werden sollte. Die Stasi wollte sie als IM an der Theologischen Fakultät der Uni Greifswald platzieren. Die Zukunftsplanung der Stasi für Angela Marquardt reichte bis August 1995. „Ich bin schon einigermaßen fassungslos, jetzt mit 30 Jahren zu erfahren, dass die Stasi bis Mitte 20 mein Leben komplett verplant hatte, ohne dass ich davon etwas mitbekam“, sagt sie.
Die Wende rettet sie. Angela Marquardt geht auf Demos, besetzt in Greifswald ein Haus und macht im Frühjahr 1990 ihr Abitur. Sie landet bei der PDS. Mit ihren Eltern bricht sie ganz. Der Kontakt zu Jörg V. verliert sich 1991. Sie verlässt Greifswald.
Sie will in Berlin ein völlig neues Leben anfangen. Sie glaubt, damit auch die Stasi-Geschichte hinter sich zu lassen.
Stasi – das war von da an nur noch ein Überwachungssystem, das sie in der PDS kritisierte. Stasi – das waren ihre Eltern, die sie in der Öffentlichkeit nicht bloßstellen wollte. Stasi – das war nie und nimmer sie selbst.
Angela Marquardt sitzt in ihrer Küche und knetet ihre Finger. Sie wirkt müde und erschöpft. Sie erzählt ihre Geschichte jetzt schon mindestens zum zehnten Mal, aber sie weiß, dass sie gerade an einer Stelle niemals besser werden wird. Das ist der Punkt, wo sie sich immer wieder rechtfertigt, warum sie sich in den vergangen zwölf Jahren in der PDS für jede Stasi-Geschichte interessiert hat, nur für die eigene nicht. Warum sie nie darauf gekommen ist, dass die Verdrängung ihrer eigenen Familiengeschichte andere als ausschließlich rein private Gründen haben könnte. Warum sie nie die Idee hatte nachzuforschen, ob es von ihr selbst eine Stasi-Akte gibt. „Mir ist klar, dass das fast jeder für einen Fehler hält“, sagt Angela Marquardt. „In meinen Augen ist es kein Fehler.“
Nur einmal flackerte ihr Interesse kurz auf. Aus dienstlichen Gründen sozusagen. Als sie 1998 für den Bundestag kandidiert, fragt Angela Marquardt ihre Mutter, ob da bei ihr was mit der Stasi war. Die Mutter sagt Nein. „Vielleicht war es blauäugig von mir, das zu glauben“, erklärt sie heute. „Aber so war es.“
Andere haben auch nicht nachgefragt, nicht Gregor Gysi, nicht Lothar Bisky, ihre beiden großen Förderer in der PDS. Hätten sie das tun müssen, in einer Art Fürsorgepflicht gegenüber der jungen, bunten Punkerin, die sie in der Öffentlichkeit so gern als Aushängeschild für eine angeblich schräge PDS zeigten?
„Wenn das schuldhaft war, Angela nicht zu fragen, ob sie mit 15 Jahren IM war, dann nehme ich alle Schuld der Welt auf mich“, sagt Lothar Bisky. „Ich lehne es ab, von mir aus solche Fragen zu stellen, wenn es um Minderjährige geht.“
Nicht mal heute fragen sie Angela Marquardt in ihrer Partei nach ihrer Geschichte. Die einen übergießen sie mit Häme. Vielleicht hätte sich die junge Frau nicht so sehr zur Vorreiterin der innerparteilichen Debatte zur Stasi-Aufarbeitung machen sollen, sagen sie. Die anderen nehmen sie einfach in Schutz, sie wird gehätschelt und getröstet von alten Genossen, die ihr sonst gestohlen bleiben konnten.
Vor zwei Wochen in Greifswald, auf der ersten PDS-Mitgliederversammlung in ihrem Wahlkreis nach der Stasi-Enthüllung, sitzen 60 Genossen im Saal. Angela Marquardt lümmelt in der letzten Reihe. Vorne reden sie zwei Stunden lang über Hochschulpolitik und Abfallwirtschaft. Kein Wort über Stasi. Schließlich geht Angela Marquardt nach vorn und erzählt ihre Geschichte. Für einige Minuten herrscht Stille im Saal. Die Bundestagsabgeordnete bittet ihre Genossen, ruhig Fragen zu stellen. Betretenes Schweigen.
Beim Rausgehen gibt ihr eine alte Genossin einen Rat: „Iss mal ordentlich. Du siehst ja ganz abgemagert aus.“
Angela Marquardt weiß selbst am besten, dass ihr das wenig helfen wird. Sie sagt: „Ich stehe mit meiner Geschichte erst ganz am Anfang.“
Mitarbeit: Barbara Bollwahn de Paez Casanova
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