piwik no script img

pisa und die folgenLyrischer Schmutz

Kriegsgedicht und Bezirksmüll

Alarmstufe eins! Offenbar sind es nicht die deutschen SchülerInnen, die am unteren Ende der Pisa-Skala stehen, sondern die deutschen BeamtInnen. Ein besonders eklatanter Fall von Missachtung des bürgerlichen Bildungsgutes ereignete sich jüngst im Bezirksamt Mitte.

Dessen anscheinend von Halbalphabeten bevölkerte Abteilung Stadtentwicklung schaffte es, das berühmte Kriegslied des berühmten Dichters Matthias Claudius als „Abfall“ und „Verschmutzung“ zu deklarieren.

Die Vorgeschichte: Zwei schon etwas ältere Damen der „Frauenaktion Scheherazade“ hatte im Herbst letzten Jahres die kalte Wut gepackt, als die rot-grüne Bundesregierung der Bombardierung Afghanistans zustimmte. Die Schulrektorin Karla Werkentin und die pensionierte Lehrerin Anna Elmiger wollten „wenigstens eine kleine symbolische Geste“ zeigen und verklebten einige Zeilen Lyrik in der Bannmeile rund um das damals noch in Mitte stehende Bundeskanzleramt.

Erste Strophe des berühmten Gedichtes von 1779: „’S ist Krieg! Oh Gottes Engel wehrt, Und rede Du darein! ’S ist leider Krieg – und ich begehre Nicht schuld daran zu sein!“

Doch die Hoffnung auf die Zersetzungskraft deutscher Lyrik war vergeblich. Weder gingen Gerhard Schröders Regierungsbeamte weinend und Abbitte leistend vor den Zeilen in die Knie, noch ließ sich das Beamtentum in seiner unerbittlichen Mahlkraft erweichen.

Im Gegenteil: Im Mai erhielten die beiden Damen die Mitteilung des Bezirksamtes Mitte, es sei ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet worden. Vorwurf: Verstoß gegen das „Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Beseitigung von Abfällen“.

Sie hätten die Verse „in Entledigungsabsicht“ ordnungswidrig entsorgen wollen. Beweis: „Diese Plakate wurden mittels Klebeband an Bauzäunen und Pollern angebracht. Aufgrund der Witterung und des vorangegangenen Regens lösten sich diese Plakate auf und verteilten sich als Abfall auf öfftl. Straßenland.“

Hätte ein Schüler im Rahmen der Pisa-Tests diese Beweisführung abgeliefert, er wäre gnadenlos durchgefallen. Wo also bleibt der offensichtlich überfällige Pisa-Test für das Beamtentum?

Eigentlich müsste ja das Bezirksamt wegen groben Verstoßes gegen Logik und Bildungskanon verwarnt werden, doch stattdessen erhielten vor wenigen Tagen wiederum die beiden Frauen eine Verwarnung. „Im vorliegenden Fall sehe ich davon ab, ein Verwarnungsgeld zu erheben oder eine Geldbuße festzusetzen. Im Wiederholungsfall müssen Sie mit einer Geldbuße rechnen“, teilte der zuständige Beamte des Bezirksamtes ihnen mit.

Zahlt das Amt im Wiederholungsfall auch eine Geldbuße? An die Senatsverwaltung für Bildung? Oder an die Nachfahren des so übel beleumundeten Dichters?

UTE SCHEUB

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen