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Unterm Rennrad

Er war das Wunderkind auf zwei Rädern, später der ewige Zweite. Jetzt scheint er ganz unten. Doch demotiviert, wie viele sagen, war Jan Ullrich (28) nie

von MATTI LIESKE

Deutlicher hätte die unterschiedliche Entwicklung, die die beiden Radprofis genommen haben, seit sie bei der letzten Tour de France meist Rad an Rad durch Frankreich gestrampelt waren, kaum zum Ausdruck kommen können. Erst legte Jan Ullrich am Samstag sein zerknirschtes Geständnis ab, in einer Disko amphetaminhaltige Tabletten konsumiert zu haben, wenige Stunden später gewann Lance Armstrong in Luxemburg den Prolog der Tour 2002 und unterstrich seine Ambitionen auf den vierten Sieg in Folge.

Der Einzige, der dies nach Einschätzung sämtlicher Radsportfachleute hätte verhindern können, heißt Jan Ullrich. Seit er 1997 mit 23 Jahren sensationell die Tour gewann, war er das Schoßkind einer frisch erwachten Radsportnation. Man prophezeite Ullrich, er werde auf Jahre hinaus unschlagbar sein. Vorschusslorbeeren, die von Jahr zu Jahr welker wurden. Erst kam auf der Skandaltour 1998 Marco Pantani und ließ Ullrich am Galibier aussehen wie einen radelnden Zombie, den Rest erledigte Armstrong. Diesmal packt er’s, hieß es jedesmal aufs Neue, und die Experten wussten dafür mindestens ein Dutzend Gründe vorzubringen. Wenn es dann wieder schief gegangen war, fanden sie genauso viele Gründe für das Scheitern. Vielleicht sollte Ullrich seinen Fahrstil ändern, schlugen die einen vor, oder wenigstens seine Taktik, die anderen. Die Hauptschuld bekam aber jedes Mal die Vorbereitung. Bis in die kalten Monate des zurückliegenden Winters tasteten sich die Zielfahnder vor, entdeckten hier einen überflüssigen Zentimeter Hüftspeck, da einen Schokoriegel zu viel und dort eine unbotmäßig gemästete Weihnachtsgans.

Die Frankreich-Rundfahrt selbst wurde jedes Mal zur Tortur für Ullrich, nicht nur wegen der Pässe in Alpen und Pyrenäen, sondern vor allem vor den Mikrofonen der Reporter, die auf ein Zeichen ihres Messias warteten, dass vielleicht doch noch alles gut werde. Was sie bekamen, waren Sätze, die ein bisschen wie auswendig gelernt klangen. Je mehr der Rückstand zu Armstrong wuchs, desto fester gelobte Ullrich, noch einmal anzugreifen, alles zu geben und um den Sieg zu kämpfen.

Wenn dem mittlerweile 28-jährigen Radprofi etwas eingehämmert wurde, dann dass zweite Plätze bei der Tour de France, von denen er inzwischen vier gesammelt hat, ebenso wenig wert sind wie Weltmeistertitel im Zeitfahren oder Olympiasiege. Was zählt in der Öffentlichkeit, ist allein der Tour-Sieg. Und jener stand in diesem Jahr durchaus auf der Tagesordnung. Wenn jetzt allenthalben von einem demotivierten Jan Ullrich geredet wird, der seine Ziele aus den Augen verloren hat und nicht weiß, was er mit sich und seinem Leben anfangen soll, dann geht das an der Situation vom Jahresbeginn komplett vorbei. So fit wie nie zuvor nahm er nach eigenen Worten im Januar das Training auf, keine Spur von den früheren Gewichtsproblemen. Diesmal wollte er alles richtig machen. „Ich weiß, was mir fehlt, um Armstrong zu schlagen“, sagte er, „ich muss nur früher dran sein.“ Bei der letzten Tour hatte er seine Topform erst etwa in der Mitte der Rundfahrt erreicht, als die Sache praktisch schon entschieden war.

Um eine optimale Vorbereitung zu sichern, ließ das Team Telekom seinem Juwel eine umfassende Betreuung mit Leibkoch, Leibarzt und persönlichem Trainer angedeihen, die man getrost als Komplettüberwachung interpretieren kann. Er begehrte nur sachte auf. „Ich bin kein kleines Kind mehr.“

Behandelt wurde er dennoch als solches; umso erstaunlicher, dass der entscheidende Fauxpas unbemerkt blieb. Offenbar auf eigene Faust übertrieb Ullrich das Training im Kraftraum derart, dass er sich schon im Januar die Knieverletzung einhandelte, die ihn schließlich für die Saison lahm legte. Gescheitert wohlgemerkt nicht am Mangel, sondern am Überschuss von Motivation. Jemand, der gewohnt war, sein ganzes Leben auf einem Fahrradsattel zu verbringen, hatte plötzlich jede Menge ungewohnter Freizeit und Freiheit. Dass er diese nicht zu Askese und Einkehr nutzte, ist bedauerlich für das Team Telekom, aber kaum verwunderlich.

Freizeit und Freiheit wird Ullrich auch in nächster Zeit mehr haben als ihm lieb ist. Ihm droht eine mindestens sechsmonatige Dopingsperre, obwohl dieser Fall mit Doping nichts zu tun hat. Die Tour de France gewinnen möchte er aber immer noch. „Ich bin jetzt ganz unten und will wieder ganz nach oben“, sagte er tapfer. Auch diesmal klang es wieder ein bisschen wie auswendig gelernt.

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