: Sensible Mittelklasse-Typen
Keine Skandale, sondern vor der Karriere erstmal fertig studiert: Melancholische Lieder, unberührt von jedem Trend und vom Weltschmerz handelnd, bieten Coldplay heute in der Großen Freiheit
von FELIX BAYER
Nehmen wir einmal an, Moden entstünden nicht zufällig. Geht man davon aus, dass neue Trends entstehen, weil die vorhergehenden bestimmte Bedürfnisse unerfüllt ließen, so könnte das letztjährige Achtziger-Revival – ebenso wie das Comeback der nach Garage klingenden Rockbands – als Antwort auf den Erfolg einiger Bands zu Beginn dieses Jahrzehnts gelten, die sich dazu bekannten, als Personen hinter ihrer Musik verschwinden zu wollen. Radiohead etwa verweigerten sich Musikvideos und Magazininterviews, Travis nannten ein Album gleich The Invisible Band.
Und auch Coldplay, die heute in der Großen Freiheit gastieren, betonten, sie seien als Menschen uninteressant. Was man dann über sie erfuhr, klang tatsächlich nicht danach, als werde ihre Band-Biographie ein skandalträchtiger Bestseller. Die vier Musiker haben sich an einer Londoner Uni kennen gelernt und noch brav ihr Studium beendet, bevor es mit der Pop-Karriere so richtig losgehen konnte.
Speziell Sänger Chris Martin porträtierte sich selbst als denkbar un-rock‘n‘rollige Figur: Abstinenzler, Cricket-Fan, etwas schüchterner, netter Kerl. Leute, die Rock für seine Mythen ebenso lieben wie für die Musik, mussten ihn hassen: Der ex-Creation-Chef und Oasis-Entdecker Alan McGee nannte Coldplay „Musik für Bettnässer“, ein Zitat, das bis heute in keinem Coldplay-Artikel fehlen darf. Sensible Mittelklasse-Typen, die sie sind, ließen sich Coldplay davon verunsichern. Waren die fast fünf Millionen verkauften Exemplare ihres Debütalbums Parachutes etwa nichts? Der Grammy für das beste Alternative-Album? Die zahlreichen englischen Awards?
Coldplay werden nie so cool sein wie die Strokes, so provokant wie Eminem, so innovativ wie Missy Elliott. Sie werden nie mit überraschenden Imagewechseln beeindrucken. Sie werden nur hoffentlich möglichst lange wunderschöne, traurige Melodien singen.
Was also macht so eine Band, wenn sie sich nach zwei Jahren ins Gedächtnis der Pophörer zurückrufen möchte, weil ein neues Album ansteht? Sie hat ein Problem. Chris Martin hat es auf den Titel der englischen Musikzeitung NME geschafft, aber dem Interview fehlen die großen Zitate, obwohl es mit James Oldham der chronisch aufgeregteste Autor des Blattes geführt hat. Chris Martin sorgt sich, weil ihm die Haare ausgehen. Tja. Chris Martin hat kürzlich die Sex Pistols für sich entdeckt. Wie niedlich! Chris Martin sagt, das Thema der neuen Platte sei, dass der Gedanke an den Tod einen die Gegenwart, mehr genießen lasse. Kein allzu ungewöhnlicher Gedanke, außer vielleicht für einen Mittzwanziger wie Martin.
Und dann gehen Coldplay hin, spielen als Headliner bei Englands größtem open-air-Festival in Glastonbury und werden von allen Berichterstattern als Triumphatoren des Wochenendes dargestellt. Sie haben den Mut, die Hälfte des Programms mit neuen Songs zu bestreiten, die Zehntausende vor ihnen noch nie gehört haben können. Und sie kommen damit durch!
Das einzige Lied, das bisher zu hören war vom Ende August erscheinenden Album A Rush Of Blood To The Head, ist die Vorabsingle In My Place. Sie klingt so gar nicht verunsichert, sondern nach einer Band, die sich ihrer Stärken bewusst ist: ein sehnsuchtsvolles Gitarrenthema, eine mit zerbrechlicher Stimme gesungene Strophe, ein Refrain, der voller Hoffnung und Leiden zugleich ist, ein Text, dessen traurige Worte von Liebe erzählen könnten. Es ist ein Lied, das mindestens so anrührend ist wie die besten Momente auf Parachutes.
Auch heute Abend in Hamburg versprechen Coldplay zahlreiche neue Lieder, man darf beim Zuhören auf die Suche gehen nach Einflüssen von Echo & The Bunnymen, mit deren Sänger sich Coldplay in der Studiozeit in Liverpool angefreundet haben sollen. Aber vor allem wird sich das Publikum von der Schönheit trauriger Lieder umschmeicheln lassen. Lieder, die von Trends unberührbar sind. Ja, uns schaudert auch bei dem Gedanken. Ja, auch wir wollen über Popbands lustigen Klatsch lesen, von Stars überraschende Statements hören, von neuen Klängen und Styles überrascht werden. Aber heute Abend ist eine Pause davon.
heute, 21 Uhr, Große Freiheit 36
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