Deconstructing Martin

Wo Unbewusstes war, soll Diskurs werden: Dekonstruktion und Diskursanalyse stoßen bei uns auf Widerstand. Dabei wären diese Verfahren bei der gegenwärtigen Walser-Debatte hilfreich. Im Kontext der aktuellen documenta offenbart sich allerdings auch die Gefahr einer Kulturalisierung von Politik

Nur wer Kunst und Politik unterscheidet, kann politischeKunst fordern

von DIEDRICH DIEDERICHSEN

Ist das Debattenfeuilleton nur eine Simulation demokratischer Öffentlichkeit? Selbst wenn dem so wäre, wären seine Themen doch als Symptome interessant. Die großen Debatten des Feuilletons kreisen in diesem Sommer mal wieder um ein Zentrum, das sowohl als Konfliktkonstellation wie als Emphasereservoir nicht neu ist: Es geht um Kunst beziehungsweise Kultur und ihr Verhältnis zur Politik. Die aktuellen Epizentren sind zum einen die Debatte Walser II und die documenta 11. In den tieferen, durch die Erschütterungen freigelegten Schichten finden wir aber so alte Bekannte wie die Auseinandersetzung um die Dekonstruktion und ihre (Nicht-)Ethik, den Political-Correctness-Streit und den seltsamen deutschen Umgang mit dem Postkolonialismus. Gemeinsam ist all diesen Konflikten aber auf fast allen Ebenen die Scheu, ja Schamhaftigkeit, mit der die Beteiligten sich weigern, politisch Farbe zu bekennen, gipfelnd in der nahezu unbedingten Weigerung, auf die Klassifikatoren „links“ und „rechts“ zurückzugreifen. Nur kein Lagerwahlkampf.

Dabei begann der Sommer mit dem Seitentausch der Feuilleton-Flaggschiffe. Die FAZ griff „links“ und „politisch korrekt“ Walser an, den die SZ daraufhin mit der Stimme diverser ehemaliger FAZler verteidigte, darunter mit dem leicht weinerlichen Hinweis, die FAZ habe doch früher an Walser genau die politische Unkorrektheit geschätzt, die sie ihm heute vorwerfe. Als denjenigen, die sich über Walsers Buch mit Hinweis auf „antisemitische Diskurselemente“ beschwerten, die Haltung der Political Correctness vorgeworfen wurde, verfasste Jürgen Habermas ebenfalls in der SZ einen Kommentar zur jüngeren Geschichte dieser rhetorischen Waffe. Darin wies er nicht nur zu Recht darauf hin, dass Political Correctness während der 90er – vor allem in den USA – ausschließlich ein leerer polemischer Schmähbegriff gewesen sei, dem, so kann man hinzufügen, schon so ziemlich alles zugerechnet worden ist, das nicht auf seinen politischen Anspruch verzichten wollte. Auch in der wütenden Antwort Karl Heinz Bohrers auf Habermas (nun in der FAZ, Seitenwechsel im Seitenwechsel) gehört zu PC wieder genau alles Mögliche, nun vor allem angeblich in Deutschland unumstrittene Konsense wie der, dass Eliten „böse“ seien und Lernen „Spaß machen müsse“.

Bohrer möchte am liebsten das psychologisch ältere Herzensanliegen der dissensualen Spießerbekämpfung mit der späteren Attitüde des politisch illusionslosen, pragmatischen Patrioten der Berliner Republik verknüpfen, der den politisierten studentischen Kinderkram wegscheuchen will wie lästiges Viehzeug. Wie in so vielen, allerdings meist schon in den 90ern publizierten Texten, so fehlt auch in seinem offenen Brief an Habermas das Eingeständnis, dass diese vermeintlichen Konsense schon seit den späten 70ern keine mehr sind. Heutiges Spießertum wird hingegen eher daran kenntlich, mit welcher Verve es auf erledigte politische Gegner eindrischt, dies als Tabubruch ausgibt und sich längst warm um den Konsens gruppiert hat, dass Eliten was Feines, die Familie heilig und Lernen endlich wieder anstrengend sein müsse. Sieht denn der Mann seit 15 Jahren keine Talkshows? Wer, wenn nicht der neuerdings als Bildungstheoretiker auffällige, nicht ganz unspießige Günther Jauch wäre eine Verkörperung zeitgenössischen deutschen Konsenses – der eben von diesem über Bohrer bis zu Harald Schmidt reicht.

Im engeren Sinne und häufiger richtete sich der Begriff der Political Correctness in den USA seinerzeit gegen Minderheitenpolitik, insbesondere gegen intellektuelle und studentische Minderheitenpolitik. Hier enthält Habermas’ Text eine Überraschung, wenn er eine Verbindung herstellt zwischen dieser Politik und der Theorie der Dekonstruktion sowie der Wirkung, die sie vor allem in den USA gehabt hat. Bohrer ärgert sich ganz besonders über die politische Nobilitierung einer Theorie durch Habermas, die dieser vorher theoretisch abgelehnt hätte. Es wäre Bohrer vielleicht lieber gewesen, Habermas hätte sich politisch verändert und wäre theoretisch bei seinem Leisten geblieben. Dass er aber nun nicht mit einem Adorno-Zitat in den Wahlkampf für Stoiber gezogen ist, sondern die Dekonstruktion als ein politisches Mittel der Linken schätzen gelernt hat, beantwortet Bohrer mit dem Argument, dass die Dekonstruktion ursprünglich eine ästhetische Theorie gewesen sei – daher für alle politischen Zwecke ungeeignet. Dass etwas vorher etwas anderes war, war indes noch nie hinreichender Grund gegen ein späteres Stadium, schon gar nicht, wenn die Entwicklung dahin erfolgreich war.

Was sich mit der Dekonstruktion seinerzeit gut machen ließ, und zwar ohne ihren Sinn zu verfehlen, war die Markierung unmarkierter, also als natürlich empfundener Redeweisen und Bezeichnungen vor allem in der politischen Alltagssprache, in der Sprache von Institutionen und Gesetzen, deren „Natürlichkeit“ ein Unrecht deckte. Die Dekonstruktion erlaubte darüber hinaus eine Isolierung von Diskurselementen und deren Examinierung jenseits ihrer „natürlichen“ Funktion als Elemente einer Erzählung oder Lebensäußerung einer Person – gegen einen ideologischen Holismus des Subjekts. Der Satz „Ich lese Walser aber gerne, bin ich nun auch ein Antisemit?“ war nicht nur der Refrain von Walser I und II, sondern ist mit anderen Variablen ein alter Bekannter dieser 90er-Debatte aus den USA.

Das Aufspüren relativ unbestreitbar als antisemitisch (oder etwa homophob) kenntlicher Diskurselemente erlaubt zunächst vor allem, etwas über Diskurse und Diskurselemente und ihre Schicksale zu sagen und nicht primär über die Personen, die sich ihrer bedienen. Das wird vor allem von den kritisierten Benutzern dieser Elemente gerne übersehen. Redeweisen und Narrative geistern durch Köpfe, ohne von diesen ursprünglich hervorgebracht worden zu sein, ja überhaupt notwendig verstanden worden zu sein. Wir reproduzieren Reden, die nicht „unsere“ sind, nicht nur weil sie das in einem gewissen Sinne grundsätzlich nicht sein können, sondern auch, weil die Dynamik ihres Funktionierens uns überzeugt und übermannt, bevor wir sie prüfen wollen. Besonders dann, wenn wir zu ihrem Inhalt, ihrer Referenz ein freundliches Verhältnis haben, das wir uns nicht ganz eingestehen wollen oder dürfen.

Bei Walser I waren es vor allem Männer wie Klaus von Dohnanyi, die sich aus der Fülle ihrer Biografie und dem Gefühl, natürlich ganz Herr ihrer Gesinnung zu sein, dagegen verwahrten, nun als Antisemiten zu gelten. Dabei war es darum damals nicht gegangen, und darum geht es auch heute nicht. Generell geht es bei diesen Befunden eher um versteckte, im Diskurs eingekapselte Argumente, die im Schutze der Selbstverständlichkeit und der Natur politisch agieren. Sie aufzuspüren will vor allem eines: sie künftig politisch diskutieren, im Lichte des Begriffs, den sie in Codes, Andeutungen, Zitaten, impliziten Behauptungen verbergen. Dies können Diskursanalyse und Dekonstruktion nun eben gerade deswegen besser als die alte Ideologiekritik, weil sie nicht auf einen zentralen Urheber und einen universellen Verdacht verweisen, sondern jenseits des Verdachtes ad hominem das politisch Unbewusste oder bewusst Verborgene öffentlicher Redeweisen hervorbringen. Man wirft ihnen gerne vor, so Individuen zu exkulpieren. Politisch verstanden, konnten aber gerade Dekonstruktion und Diskursanalyse dazu beitragen, eine individuelle Symptomdichte wie bei Walser in eine politische Symptomatologie einzutragen.

Nun gab es in der politisch motivierten Dekonstruktivismusgeschichte der USA, der Campuspolitik der als PC gebrandmarkten postkolonialistischen, identitätspolitischen und minderheitenpolitischen Initiativen aber auch tatsächlich ein Problem, das mit der Anwendung einer ästhetischen Theorie, vor allem literaturwissenschaftlicher Provenienz, auf politische Zusammenhänge zusammenhing. Dieses Problem entstand aber nicht durch die Unangemessenheit dieser Theorie gegenüber ästhetischen Elementen politischer und alltagssprachlicher Rede, sondern gerade durch ihr analytisches Gelingen und die darauf aufgebaute Symbolpolitik: Kultur und Alltagsleben erwiesen sich als ein Steinbruch des Politischen, den abzutragen und schließlich auch zu hegen sich als so arbeitsaufwändig wie vordergründig sinnvoll erwies.

Eine politische Arbeit im Dienste von identitären Entwürfen, sei es die minoritäre sexuelle Orientierung, sei es die unterdrückte Ethnie, droht indes immer zu kulturalisieren. Über die kulturelle Zelebrierung der eigenen Differenz und so gewonnenen Identität kann die politische Natur des bürgerrechtlichen und antihegemonialen Anliegens aus dem Auge geraten. Diese Kulturalisierung oppositioneller Politik der 90er führte tatsächlich mitunter zu den berühmten Albernheiten, die von ihren Gegnern im immergleichen Anti-PC-Spott stets für das Ganze genommen werden. Ulrich Raulff packte sie in einem weiteren Aufsatz für die SZ, der ankündigte, einen Metadiskurs über den Habermas-Bohrer-Konflikt zu führen, um sich dann aber einfach auf die Seite von Bohrer zu schlagen, alle wieder aus, die Formeln der Anti-PC-Klischees: McCarthyismus, Gesinnungsschnüffelei und vor allem aus aktuellem Anlass die politische Gängelei des Ästhetischen. Gerade die letzte Formulierung wirkt so besonders unangemessen, wo doch fast alle Kritiker Walsers betonten, dass das Buch auch schlecht geschrieben sei. Die Betreffenden scheinen sich unter dem Druck zu fühlen, ein ethisches Missfallen nur ausdrücken zu dürfen, wenn es mit ihrem ästhetischen kongruent ist. Unter welcher Gängelei leiden sie?

Bei der amerikanischen Campus-PC war das Ästhetische nur ein Nebenkriegsschauplatz. Bei Walser I spielte die Kunst auch keine Rolle, und bei Walser II wurde bislang auch nur ein Diskurselement herausgebrochen, das relativ eindeutig einen Sinn auch jenseits des Kunstvorbehaltes verfolgt, aber eine politisch-ästhetische Kritik der künstlerischen Mittel Walsers steht noch aus. Die jenseits dieses Falles benennbaren Probleme zeitgenössischer, politisierter Kulturarbeit und Kunstkritik haben aber eine andere Gestalt als die Verfehlung von Walsers Ästhetik.

Vielmehr führte die Kulturalisierung der Politik auch zu kontraproduktiven Mischgestalten und Missverständnissen aufseiten der Kultur-Linken. Mit dem politischen Claim der neuen documenta scheinen all diejenigen einverstanden zu sein, die der von Catherine David kuratierten documenta X eben genau ihren politischen Anspruch als „politische Gängelei des Ästhetischen“ vorhielten – vom konservativen Kunstkritiker bis zum Bundespräsidenten. Das liegt daran, dass man zum genauen und auch politisch-kritischen Hinsehen nicht gerade gezwungen wird. Die Tendenz zur Kulturalisierung des Politischen steht oft als schützender Paravent vor der Dringlichkeit der je konkreten ästhetisch-politischen Anliegen.

Tatsächlich gibt es auf der documenta 11 viele gelungene Beispiele politischer Kunst, ebenso viele Beispiele misslungener. Das ist nicht das Problem. Problematisch aber ist insbesondere Okwui Enwezors kulturelle Idee einer antihegemonialen und noch häufiger antiwestlichen Formation, in deren Namen seine Ausstellung operiert. Deren oft konkrete politische Anliegen werden in ein sehr allgemeines und letzten Endes indifferentes Konzept von nichthierarchischem Netzwerk, Kompendium und Stimmenvielfalt eingetragen. Dieses Konzept erreicht einen Grad der Allgemeinheit, der den Kunstwerken nicht nur in dieser Rahmung ihre jeweilige konkrete Stoßrichtung nimmt, sondern insgesamt auch vom falschen Allgemeinen in ein falsches Konkretes kippt.

Dies geschieht, wenn Enwezor etwa den Aufstieg des Islamismus und die Erfolge Chomeinis und der afghanischen Mudschaheddin gegen die UdSSR als Bestandteil des von dem Kolonialismustheoretiker Frantz Fanon entworfenen Projekts der Dekolonisation beschreibt. Islamismus, Fanons Aufstand der „Verdammten der Erde“ und die Antiglobalisierungsbewegung erklärt er zu einer antiwestlichen Bewegung. Hier hat auch Enwezor im Rausch einer kulturellen Begeisterung für das global Antihegemoniale eine der wichtigsten politischen Kategorien vergessen: den Unterschied von links und rechts. Der ist in der kulturalistischen Formulierung „antiwestlich“ abgesoffen. Antihegemonial kann aber nur etwas politisch-ästhetisch Konkretes, Gerichtetes sein, und das kann nie mit einem gemeingefährlich kulturalistischen Konzept des Antiwestlichen identisch sein, das tendenziell den Unterschied zwischen Genua und dem 11. September eindampft und sich so mit dem Gerede Berlusconis gemein macht.

Das ist keine Gängelung der Kunst durch Politik, das ist das Gegenteil: Preisgabe eines Minimums politischer Differenzierungsnotwendigkeit im Namen einer seltsam pankulturalen Ideologie, die mal alles zur Kultur und dann wieder – wie auf einer Pressekonferenz geschehen – alles zur Ethik erklärt. Nur wer aber Kunst und Politik unterscheidet, kann politische Kunst fordern und dann auch die Fälle einer falschen, also zu kritisierenden Politik der Kunst benennen. Der von Walser zum Beispiel.