: Fallen und Ausgeliefertsein
Sparen, wo es wehtut: Der Berliner Kulturinstitution Podewil wird ein Drittel des Etats genommen, damit droht das Aus. Dabei zeigt die Reihe „Körperstimmen“ gerade die große Stärke des Hauses
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Stellen Sie sich vor, Sie sind zum Abendessen eingeladen. Aber anstatt am gedeckten Tisch zu servieren, steht der Gastgeber mit Schürze in der Küche und liest Rezepte vor. So ungefähr verhält sich ein Performance-Abend von Thomas Lehmen zum Tanz. In dem Solo „distanzlos“ und in dem Trio „mono subjects“, die beide in der Reihe „Körperstimmen“ am Podewil in Berlin wiederaufgeführt werden, sucht er nach dem Punkt absoluter Wahrhaftigkeit: ohne Illusion, ohne Lüge.
Material wird vorgestellt: Wie eine Liste der Zutaten demonstriert Maria Clara Villa-Lobos am Anfang alle Tanzbewegungen im Schnelldurchgang. Lehmen selbst erzählt, wie ihn eine alte Sportverletzung bei einem Gastspiel in Japan eingeholt hat und ihn echte Schmerzen plötzlich zusammenbrechen ließen – aber alle hielten das für einen Teil der Rolle. Schon da kündigt sich an, dass die Suche nach dem „Echten“ nicht ganz ironiefrei ist. Auch Lehmens Tanz zum Geburtstag seiner Mutter fällt weit auseinander in der Emotionalität des Wunsches, unaussprechbare Gefühle zu vermitteln, und den reduzierten Bewegungen. So sieht man Lehmen und seine Ko-streiter eigentlich ständig scheitern in dem Versuch, die Voraussetzungen des Theatralischen zu unterschreiten; je heftiger sie bloß sie selbst sein wollen, desto weiter versteigen sie sich auf Metaebenen.
„mono subjects“ entstand letztes Jahr, als Lehmen die Probenräume der Berliner Kulturinstitution Podewil als Artist-in-Residence nutzen konnte. Bei vorigen Produktionen haben ihn der Mousonturm Frankfurt und Kampnagel Hamburg unterstützt. Beide haben jetzt mit Bestürzung von den einer Schließung gleichkommenden Einsparungen beim Podewil gehört (siehe taz v. 28. 3.) – denn jedes Haus in den fragilen Netzen freier Produktionen ist auf andere Mitspieler angewiesen.
Das Festival „Körperstimmen“ gehört zu den wagemutigsten der Tanzszene. Kuratoren sind Ulrike Becker und André Theriault, ausgestattet mit zwei halben Stellen. Wenn das Podewil 16 Mitarbeiter entlassen muss, wie es der Beschluss des Berliner Senats vorsieht, erwischt es einen der beiden: Damit sind dann gleich zwei Tanzreihen im Jahr verschwunden. Auch für den Etat von „Körperstimmen“, mit 70.000 Euro vergleichsweise schlank, sind keine Mittel mehr da, wenn dem Podewil 715.000 Euro, ein Drittel des Gesamtetats, gestrichen werden.
Der erste Gast im 1992 eröffneten Theatersaal des Podewils war vor zehn Jahren Meg Stuart: Mit einer Wiederaufnahme von „Disfigure Study“ kam die amerikanische Choreografin zu „Körperstimmen Nr. 7“ zurück. Ihre anatomischen Bewegungsbilder haben nichts von ihrer verstörenden Kraft verloren: vom Fallen und Aufrappeln, vom Ausgeliefertsein hilfloser Körper, von den Ambivalenzen getragen, gestützt (oder geliebt) zu werden, handelt das Stück. Alle diese Bilder erfuhr man Anfang der Neunzigerjahre in einer engen Verbindung zu den Angriffen des Körperbildes durch Aids und den Subjekttheorien des Dekonstruktivismus. Zehn Jahre später begreift man, dass Stuarts Ästhetik über diesen Kontext hinausträgt. Die Verletzbarkeit, die aufscheint, die Trauer, die diese Körper besetzt hält, ist zur Signatur eines Jahrzehnts geworden, das den Blick auf die Schwäche des Menschen immer weniger aushält und mit immer größerem Aufwand abwehrt.
Stuart und Lehmen gehören heute zu den Stars, die im Podewil auftreten, weil sie in Häusern wie diesem überhaupt erst die Infrastruktur gefunden haben, die ihre Arbeitsweise braucht. Am Podewil, nicht weit vom Alexanderplatz, entstand eine Szene, die es vorher so weder im Osten noch im Westen der Stadt gegeben hatte. Die neue Lust an der taufrischen Literatur dockte dort an im „Literarischen Salon Britta Gansebohm“, alte Jazzer und junge Elektroniker begegneten sich in den Konzerten, im Hof wurde unter den Bäumen Tango getanzt und die Clubszene war gleich nebenan. Das Haus zog internationale Künstler an, ihre Namen findet man jetzt unter den Protestbriefen im elektronischen Gästebuch wieder: von dem Tänzer Xavier Le Roi, den Performancegruppen She She Pop und Gob Squad, von Sasha Waltz und René Pollesch. Fast alles, was in den letzten zehn Jahren an neuen Formen und Inhalten wichtig wurde, ging hier durch.
Eine inhaltliche Begründung, warum in der Sparklausur des Senats gerade im Podewil ein Lückenbüßer gesehen wurde, gibt es nicht. Innerhalb der nächsten 14 Tage darf das Haus nun über „Lösungen“ nachdenken, wie es mit dem um ein Drittel reduzierten Etat klarzukommen denkt. Man wolle das Haus ja nicht beschädigen, schiebt der Senator für Kultur, Thomas Flierl, jetzt nach.
Vor den konkreten Beschlüssen hatte er noch theoretisiert, bei Schließungen den Abschied vom Unzeitgemäßen zu suchen. Für einen Schnitt bei den großen Berliner Häusern fehlte letztlich aber der Mut.
Ende Juni muss der Senatsbeschluss vom Parlament bestätigt werden; bis dahin wird er in Ausschüssen gelesen, bis dahin ist Kampfzeit für das Podewil. Doch viel mehr als die Briefe voller Wut und Solidarität von Künstlern und Intendanten, die täglich bei ihnen eintreffen, haben sie nicht in die Schlacht zu werfen.
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