: Linkssein verpflichtet
Linke Politiker treten aus Lust & Laune oder wegen Lappalien zurück, statt ihre Pflicht zu tun und die Welt zu verbessern. Anerkennung zumindest haben sie dafür nicht verdient
Das Bild war eine Allegorie auf den Rückzug in die private Idylle. Oskar Lafontaine auf dem Balkon seines Hauses in Saarbrücken, den Sohn auf den Schultern, lachend, aller Ämter ledig – und schweigend. Fassungslos nahm die Öffentlichkeit zur Kenntnis, dass ein sozialdemokratischer Parteichef den Konflikt mit seinem Genossen und Rivalen, dem Bundeskanzler, gar nicht erst aufgenommen, sondern sich auf leisen Sohlen davongemacht hatte. Die öffentlichen Folgen dieser privaten Aktion erwiesen sich für die Linken als verheerend. Sie beendeten den Großversuch, mit politischen Mitteln ökonomische Prozesse zu beeinflussen, bevor er überhaupt in Gang gekommen war.
Wie der Anfang, so das Ende nach vier Jahren. Wieder verlassen Politiker mit linkem Anspruch kampflos die öffentliche Bühne. Gregor Gysi, Sozialdemokrat nicht dem Parteibuch, wohl aber der Gesinnung nach, nimmt ein minderes Vergehen zum Anlass, sich als Senator der SPD/PDS-Koalition zu verabschieden. Er erklärt, er könne das Unrecht, einen zum Amtsgebrauch bestimmten Flugbonus privat genutzt zu haben, vor sich selbst nicht verantworten. Doch die strenge Selbstbeurteilung steht in krassem Gegensatz zur heiteren, gelösten Art des Rücktritts: Gysi geht bar jeder Zerknirschtheit, aber auch bar jeder Sorge, wie die eigene Partei ohne Lotsen zurechtkommen soll.
Sind derartige Abbrüche von Karrieren im linken politischen Milieu anstößig? Nach dem Ende der großen, Identität verbürgenden Weltanschauungen gilt die Idee einer im Lebenszyklus sich entwickelnden, durchgehaltenen Ich-Identität als Plunder, als Ausdruck einer Fiktion von Selbstverwirklichung. Nicht Kontinuität, sondern Brüche in der Biografie sind nun interessant, der stete Neuanfang, das Experiment. Der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung wechseln können. Bastellebensläufe erweisen sich als Ausdruck einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der der lebenslang ausgeübte Beruf ebenso zur Ausnahme wird wie lebenslange Überzeugungen.
Diesem intellektuellen Klima fiel auch das Selbstbild der Aktivisten zum Opfer, die sich der Arbeiterbewegung verschrieben hatten. Für sie galt seit August Bebel, dass sie in den Stiefeln zu sterben hatten. Noch unter den Greisen im Politbüro der SED finden sich Überreste dieser Tradition. Der linke Funktionär mochte fehlbar, charakterlich schwach, ein Dummkopf sein – aber an seiner lebenslangen Ergebenheit gegenüber „der guten Sache“ durfte es keinen Zweifel geben. Wer sich als Linker engagierte, spannte sich in das Joch der Pflicht und Pflichterfüllung angesichts des hohen Ziels der Emanzipation. Nicht von der, sondern für die Arbeiterbewegung leben, wie der sozialistische Theoretiker Wolfgang Abendroth zu sagen pflegte. Selbst Linke wie Brecht, die sich ein Vergnügen daraus machten, die herrschenden Tugenden zu demaskieren und einen Horror vor Heldentum hatten, glorifizierten die Pflichterfüllung des Parteisoldaten.
Aber konnte dieses aufs große Kollektiv bezogene Ideal der Pflichterfüllung wirklich standhalten, als die Arbeiterbewegung sich zersetzte, immer durchlässiger wurde für die Werte, die die westlichen Gesellschaften und damit auch die deutsche Nachkriegsgesellschaft bestimmten? War die einzige Pflicht, der alle freudig zustimmten, nicht die Pflicht, glücklich zu werden? Schon im konservativen Schrifttum der 60er- und 70er-Jahre wird endlos die Klage variiert, jeder beanspruche nur noch Rechte, während Pflichterfüllung, Fleiß und Gehorsam, als Sekundärtugenden verunglimpft, allesamt den Bach runtergingen. Dieser Klage hat sich später der Sozialdemokrat Helmut Schmidt mit dem Vorschlag angeschlossen, den Kanon der Menschenrechte durch einen korrespondierenden Kanon der Menschenpflichten zu ergänzen.
Schmidt war insofern ein interessanter Fall, als sich in seiner Person die Pflichtauffassung der Arbeiterbewegung mit der Pflichtethik Kants verband – mit ihrer strikten Entgegensetzung von Pflicht und Neigung, ihrer barschen Zumutung, nicht einmal die kleinste menschenfreundliche Notlüge zuzulassen, weil sie die Humanität (auch des Lügenden) verneine. Schmidts Vorschlag der Grundpflichten verfiel fast allgemeiner Ablehnung, weil er Menschenrechte und Pflichten auf der gleichen Ebene abhandelte und sie in einem vollständigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander sah.
Zwar implizieren Menschenrechte auch Pflichten, zum Beispiel die, die menschliche Würde nicht zu verletzen, aber die Würde ist das vorrangige Gut. Erst daraus folgt die Pflicht des Staates und der Mitmenschen, sie zu achten. Von der Symmetrie von Grundrechten und Grundpflichten auszugehen tilgt geradezu die Substanz der Menschenrechte. Nicht umsonst sahen die realsozialistischen Verfassungen und vor ihnen die konservativen Staatsrechtslehrer in dieser Symmetrie die Hauptsache.
Können wir Heutigen also als von der schweren Pflicht Befreite glücklich aufatmen? Und unsererseits den Politikern, den linken zumal, die zu neuen, nunmehr privaten Ufern aufbrechen, ein herzliches Glückauf nachrufen? Offensichtlich nicht. Nach wie vor sind wir peinlich berührt und wünschen sie zur Hölle. Und das zu Recht. Denn es macht einen Unterschied, ob ich Pflichterfüllung nach der Art Edmund Stoibers auffasse, als staats- und standortsichernde Tugend des „Aufwärts Deutschland!“, ohne Rücksicht darauf, auf welchen humanen Kontext sich die Pflichterfüllung bezieht; oder ob ich Pflichten sozial verorte, im zwischenmenschlichen Bereich, als Pflicht, zu helfen, beispielsweise.
Diese Pflicht, zu helfen, kann nicht gesetzlich verankert werden. Man nennt sie „unvollkommen“, weil sie ihrem Gehalt nach nicht klar erkennbar ist, weil ihre Motive anspruchsvoller sind und ihre Verwirklichung schwieriger ist. Man kann sie nicht erzwingen, nicht einmal abschließend postulieren. Linke Politiker haben sich dieser unvollkommenen Pflicht, zu helfen, verschrieben, denn sie sind angetreten, um für Gerechtigkeit und Solidarität zu kämpfen. Warum gönnen wir ihnen die wenigen Annehmlichkeiten des Politikerdaseins und verzeihen ihnen Eitelkeit und Geltungssucht? Weil wir anerkennen, dass sie ihre Pflicht, zu helfen, als öffentliche begreifen, sich Widrigkeiten und Frust aussetzen, uns entlasten. Im günstigsten Fall sogar etwas Progressives bewirken.
Die Pflicht, zu helfen, überschreitet, wenn sie dem solidarischen Impuls entstammt, prinzipiell den privaten Bereich der Nächstenliebe, der Karitas. Denn Solidarität setzt sich nur in der öffentlichen Auseinandersetzung durch, auf der Straße, in den Institutionen und – auf besonders exponierte Weise – im parlamentarisch-demokratischen Kampf. Öffentliche Anerkennung und öffentliche Pflichterfüllung gehören deshalb zusammen.
Indem wir Lafontaines oder Gysis Rückzug aus der Politik verurteilen, entziehen wir ihnen die Anerkennung. Was sie fürderhin privat Gutes tun, bleibt uns schnuppe. CHRISTIAN SEMLER
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