Haben Sie Angst vor diesem Mann?

Rot-Grün versuchte, den CSU-Kanzlerkandidaten als bayerischen Reaktionär zu dämonisieren und einen Lagerwahlkampf zu führen. Das war ein Fehler: Denn der Kanzlerkandidat Stoiber entzieht sich diesen simplen Klischees. Bleibt freilich die Frage: Wer ist Edmund Stoiber? Und was will er wirklich?

Stoiber wird in Berlin anders regieren als in München: neoliberal, nicht etatistisch

von CHRISTIAN SEMLER

Warum bloß hat niemand wirklich Angst vor Edmund Stoiber? Trifft es etwa nicht zu, dass er der Atomlobby wieder freie Fahrt geben, dass er die Ökosteuer liquidieren, dass er die Bundeswehr im Innern einsetzen, eine restriktive Einwanderungspolitik fahren, dass er die Frauen an den Herd zurückholen will?

All diese bösen Absichten ließen auf einen Lagerwahlkampf nach dem Muster von 1980 hoffen, als Franz Josef Strauß kandidierte und sich Linke wie Liberale zu einer breiten Abwehrfront zusammenfanden.

Strauß – das war der Inbegriff von Macht- und Geldgier gewesen, von einer Demagogie, die im politischen Gegner nur den Feind sah, den es zu vernichten galt. Strauß ante portas – ein Schreckbild, das mit den Farben Weiß und Blau grundiert war. In der politischen Farbenlehre hieß das damals: Klientelwirtschaft, Korruption und Fremdenhass. Das Schreckbild funktionierte bis in die Reihen der CDU, Strauß unterlag.

Warum ist es Rot-Grün nicht gelungen, 2002 eine Doublette des damaligen Lagerwahlkampfs aufzulegen? Ganz einfach, weil das Spiel mit Stereotypen zwar ebenso unterhaltsam wie effektiv ist, aber die Realität dabei nicht aus den Augen gelassen werden darf. Schon 1980 zeichnete die Anti-Strauß-Kampagne ein Zerrbild dieses gewalttätigen und korrupten, gleichzeitig aber auch pragmatisch und realitätsbezogen agierenden Politikers. Keiner seiner Kritiker (und wenige seiner Freunde) trauten ihm beispielsweise zu, dass er sich nur wenige Jahre später über seine eigene, überschäumende antikommunistische Agitation hinwegsetzen und den Milliardenkredit für den Todfeind DDR einfädeln würde. Könnte es sein, dass die Sehnsucht nach klaren Fronten im Jahr 2002 ein weiteres mal dazu führt, das Bild eines bayrischen Kandidaten zu verzeichnen?

Nach der Auffassung vieler Befürworter des „Was will Stoiber wirklich“-Szenarios hat der Kandidat nur jede Menge Kreide gefressen. Aber wehe, wehe, wenn er im Kanzleramt Platz genommen hat. Rot-Grün setzte im Grunde auf die kulturell-politische Differenz. Aber diese Strategie scheiterte einmal, weil sich Stoiber hier der Polarisierung geschickt entzog. Aber sie scheiterte zum Zweiten, weil der CDU-Kandidat unbeirrt die wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik ins Zentrum seiner Wahlagitation rückte. Hier hatte Schröder mit seinem Versprechen „Innovation und Gerechtigkeit“ Hoffnungen geweckt, die er in beiden Richtungen enttäuschte. Wie zum Hohn schallen ihm jetzt von Stoibers Seite beide Postulate entgegen. Der CDU/CSU-Kandidat posiert als Anwalt der kleinen Leute, die Schröder als Sachwalter der großen Industrie habe bluten lassen. Und er stellt in Aussicht, durch Investitionsbeihilfen, Steuervorteile und die weitere Deregulierung des Arbeitsmarktes einen neuen Innovationsschub auszulösen.

Es geht nicht darum, dass Schröder dies schon alles versucht hat, dass die ökonomischen Vorstellungen beider dicht beieinander liegen usw. Was allein zählt, ist, dass der Große Macher nichts gemacht hat. Wo erfolgreiches Handeln zur alleinigen Regierungsmaxime wurde, zählen weder die guten Absichten noch die Widrigkeiten, die dem Erfolg im Wege standen.

Aber gibt es diese kulturelle Differenz zwischen der Stoiber- und der rot-grünen Welt nicht wirklich? Steht nicht zu befürchten, dass das mühsam erkämpfte zivilisatorische Niveau in Deutschland zurückgedreht wird? Stoiber selbst hat kürzlich in seiner Grundsatzrede im Französischen Dom zu Berlin das „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“-Motiv wieder aufgenommen. Dabei ist weniger interessant, dass er wie Roman Herzog glaubt, eine Art genereller Aufbruchsmentalität erzeugen zu können, wenn möglich sogar von der Regierungsbank herunter. Spannend ist vielmehr seine Betonung des Streits, der zu einem neuen gesellschaftlichen Konsens führen soll. Hier grenzt sich Stoiber von den korporatistischen Schröder’schen Verhandlungsmodellen ab, wo die mächtigsten Verbände zu konsensuellen Lösungen kommen sollen. Stoiber ist klar, dass der Wandel von Mentalitäten einem längeren Zeitrhythmus folgt als die Kadenz einer Regierung. Er kann nicht pushen, schon mit Rücksicht auf die CDU nicht, er muss träufeln, um Wertorientierungen nach rechts zu verschieben.

Aber was heißt hier „rechts“? Stoiber selbst würde eine solche Kategorisierung schroff zurückweisen, er sieht sich in der Strauß’schen Traditionslinie, nach der „die Konservativen an der Spitze des Fortschritts marschieren“. Er will beides in einem sein. Sinnstifter im Horizont des christlichen Wertekosmos, der um die Fixsterne von Freiheit und Solidarität kreist. Und Spitzenreiter bei der Durchsetzung avancierter Technologien.

Sein Credo führt allerdings niemals in die gefährliche Zone, wo christliche Werthaltungen und die ungebremste Entwicklung der Produktivkräfte miteinander kollidieren könnten, zum Beispiel im Bereich der Gentechnologie, der Atomwirtschaft, wo es um die „Bewahrung der Schöpfung“ geht. Oder wo ein christliches Menschenbild gebieten würde, zwischen „nützlichen“ und unnützen (weil hilfsbedürftigen) Immigranten keinen grundlegenden Unterschied zu machen. Wo es zum Eklat kommt, riskiert er den Konflikt mit den Amtskirchen. Er ist kein Klerikaler, der sich der kirchlichen Autorität unterwirft, sondern nimmt umgekehrt den Klerus in Dienst des Staates.

In Stoibers harmonischem Wertekosmos findet ein gleitender Übergang statt zwischen dem Paterfamilias und dem Pater Patriae. Der sorgsame Hausvater praktiziert die gleichen Tugenden wie der Staatsmann. Zwischen den Kardinaltugenden und denen, die als „Sekundärtugenden“ gelten, also Pflichterfüllung, Gewissenhaftigkeit, Fleiß und Gehorsam gegenüber Gesetz und Staat, kann es keine Konflikte geben. Sie sollen im öffentlichen wie im privaten Leben herrschen. Der Kandidat gibt sich als Herold dieser Tugenden und grenzt sich ab von den Laxheiten der Spaßgesellschaft.

Liegt Stoiber hier im Widerspruch mit den langfristig wirksamen Wertorientierungen der deutschen Gesellschaft? Ja, wenn er glaubt, mit den Herzog’schen „Hauruck-Appellen“ gesellschaftliche Bewegung erzeugen zu können. Nein, wenn er sich selbst zum Muster der Pflichterfüllung stilisiert. Die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung lehren, dass es gerade die Erschütterung der Pflichterwartungen gegenüber den CDU-Politikern war, die in der Spendenaffäre zur bislang tiefsten Krise der Christdemokraten führte. Rot-grüne Wahlstrategen irrten auf fatale Weise, als sie Stoiber als nimmersatten Aktenfresser, als bar jeder Ironie und Selbstironie, eben als Pflichtmenschen porträtierten. Jetzt wird der Pflichtmensch begehrt und nicht der Entertainer. Was sie selbst nicht sein wollen, erwarten jetzt, wo die fetten Jahre vorbei sind, die Wähler von ihren Politikern.

So wie Schröder unter der Last nicht eingetretener Erwartungen zusammenbricht, so hell strahlt Stoibers bayrischer Stern. Er soll die Einheit traditioneller Wertorientierungen und geglückter Modernisierung unter Beweis stellen. Labtop und Lederhose als Mythos der Moderne. Das bayrische Beispiel lehrt dreierlei: Es war erstens möglich, mit Hilfe einer straff geführten, geradezu leninistisch operierenden Einheitspartei ein ursprünglich tief in sich gespaltenes Land wie Bayern zu einen und ihm ein vorher nicht gekanntes Identitätsbewusstsein zu verpassen. Es war zweitens möglich, mittels umfassender dirigistischer staatlicher Maßnahmen eine Standortpolitik durchzusetzen, die im Großraum Oberbayern zu Clustern führte, also zu Netzwerken von Industrie, Wisenschaft und Kultur, die immer weitere Investoren nach sich ziehen. Und es war drittens möglich, das regionale und lokalen Brauchtum zu hegen und zu pflegen, nachdem ihm alle Zähne der Widerständigkeit gezogen worden waren. So west unterhalb des zentralistisch organisierten Staates und der Staatspartei die alte Folklore fort, die Restbestände des bäuerlichen Anarchismus, wo mit der rechten Hand geschworen und mit der linken der Meineid abgeleitet wird.

Nichts wäre falscher, als das bayrische Regierungssystem als Speziwirtschaft zu charakterisieren. Do ut des wird zwar allseitig praktiziert. Aber es funktioniert nur im Rahmen eines rigorosen Beamtenstaates, der im aufgeklärten Absolutismus wurzelt und der seine eigene Lichtgestalt hat: den Grafen Montgelas, einen Reformer, der in der napoleonischen Ära das Tor für Bayerns Weg in die Moderne aufstieß. Jetzt soll der Monteglas, wie er auf Bayrisch heißt, sogar ein Denkmal in München bekommen.

Ob der endlich real gewordene bayrische staatsmonopolistische Kapitalismus tatsächlich auf Dauer funktioniert, steht hier nicht in Frage. Sondern ob er auf die Verhältnisse Restdeutschlands übertragbar ist. Kommt es zur Bajuwarisierung Deutschlands oder siegt die Teutonisierung Bayerns? Bayern nennt sich selbst trotzig Freistaat, um seine Eigenständikeit innerhalb der Bundesrepublik (und innerhalb der EU!) zu betonen. Aber der Freistaat als „Heimat“ hat seinen Lebenssaft stets aus den ungeliebten Territorien jenseits des Mains gesogen. Er parasitierte und grenzte sich gleichzeitig ab. Es liegt auf der Hand, dass Stoiber diese Doppelrolle in Berlin nicht wird wahrnehmen können. Deshalb winken auch nichtbayrische Ökonomen wie Thomas Straubhaar, Mitglied der „Fünf Weisen“, ab wenn vom bayrischen Etatismus als Vorbild die Rede ist. Wissenschaftler wie Straubhaar sehen Stoibers Rolle als Wegbereiter der Deregulierung des Arbeitsmarkts; sie sehen ihn stark genug, die Gewerkschaften entscheidend zu schwächen. Den Staatsinterventionismus aber wird er als Plunder von sich abtun, wenn die geplanten Investitions- und Förderprogramme verpufft sein werden.

Stoiber und Schröder – vom Resultat her also Jacke wie Hose? Hoffen wir auf den Streit, den gesellschaftlichen Streit, den Stoiber im Französischen Dom proklamiert hat. Nehmen wir ihn auf. Vielleicht kommt doch ein etwas anderer Aufbruch zustande, als der CSU-Vorsitzende sich träumen ließ.