leichtathletik-em: Was vom Feste übrig blieb
Ein positiver Teufelskreis
Ingo Schultz, so erzählte er es später, hatte „eine Gänsehaut“; als er das Stadion betrat, in dem er sein Finale laufen sollte, so überwältigt war er von der Kulisse. „Das Publikum hat mich getragen, als die Beine immer schwerer wurden. Selbst als ich platt war, ging da noch was“, verriet Schultz, prompt wurde er über 400 Meter Europameister. Charles Friedek, Schultzens Kollege von der dreispringenden Zunft, hatte gar „ungelogen Tränen in den Augen“, als er ins proppevolle Oval geführt wurde und hinüberschritt zur Sandkuhle, um dort Silber zu gewinnen. „Die Atmosphäre war einfach einmalig“, sagte er später. So einmalig, dass 400m-Läuferin Grit Breuer später gerne ein Stück von ihrer Silberplakette herausgebrochen und abgegeben hätte. „Die Leute haben es sich wirklich verdient“, fand sie.
Steffi Nerius wiederum stand nach eigenen Angaben gar kurz davor, das Speerwerfen Speerwerfen sein zu lassen. „Am liebsten hätte ich mich nur auf den Rasen gelegt und einfach die Stimmung genossen“, verriet sie jedenfalls. Dass sie sich überwinden konnte und den Speer dann doch noch geworfen hat, wurde mit Silber belohnt – und natürlich mit unbändigem Jubel und Applaus, der freilich nicht nur die deutschen Leichtathleten überschüttete wie die heftigen Regengüsse aus dem dunkelbewölkten Münchner Himmel, sondern so ziemlich alle Athleten, die in diesen tollen Tagen von München laufen, springen oder werfen durften.
Denn fest steht: Diese Europameisterschaft von München hat, in positivem Sinne, so ziemlich alles übertroffen, was die Verantwortlichen um Helmut Digel, Chef des Münchner Organisationskomitees, im Vorfeld erwartet hatten: Bis auf den Eröffnungstag ein annähernd dauerausverkauftes Haus – und eine Stimmung, die ihresgleichen sucht. Die EM von München, auch daran gibt es keinen Zweifel, war ein einzigartiges Freudenfest in der für eine solche Sportgroßveranstaltung nach wie vor einzigartigen Umgebung des Münchner Olympiaparks, von Athleten wie Zuschauern gleichermaßen und ausschließlich ebenso friedlich wie fair zelebriert. Bis gestern getraute sich selbst das Dauerbrennerthema Doping nicht, die Festlichkeiten zu stören, wenngleich es freilich auch in München so manche Merkwürdigkeit zu beobachten gab, zum Beispiel die wundersame Stärke der griechischen Leichtathleten, allen voran im Sprint- und Wurfbereich. Trotzdem: Von der Krise, die der Leichtathletik national wie international allenthalben nachgesagt wird, war noch nicht einmal ein Hauch zu spüren, ganz im Gegenteil: Sie schien sich in München, einem Stabhochspringer gleich, aufzuschwingen zu neuen Höhen.
Dabei wäre es durchaus spannend, könnte man eruieren, welche Rolle dem Fernsehen bei diesem plötzlichen Aufschwung zukommt. 53 Stunden haben ARD und ZDF von den 46 Entscheidungen berichtet – live wohlgemerkt. Entsprechend groß angelegt war bereits die PR-Welle, mit der die Öffentlich-Rechtlichen schon im Vorfeld das Land überflutet haben. Die Leute haben die Leichtathletik mit all der guten Stimmung im Fernsehen gesehen, und sie sind deswegen anderntags selbst zur Leichtathletik gegangen, um an der guten Stimmung teilnehmen und mitmachen zu können. Das ist quasi ein Teufelskreis – nur eben ein positiver. Dass die Läufer, Springer und Werfer bei ihren Golden-League-Meetings nun für den Rest der Saison wieder im Pay-TV verschwinden, darf der Leichtathletik durchaus Sorge bereiten, mehr: Es muss es tun. „Für Sportler wie Sportart ist das eine Katastrophe“, sagt der deutsche Stabhochspringer Tim Lobinger, der in seiner Disziplin am Samstag Bronze holte.
Mit den insgesamt 18 Medaillen bei dieser Europameisterschaft konnte der Deutsche Leichtathletik Verband (DLV) sogar die Vorgabe von Clemens Prokop erfüllen, zumindest vordergründig: „Zwischen 15 und 18 Medaillen“, hatte der DLV-Präsident im Vorfeld veranschlagt, „wenn es optimal läuft“. Ganz so strahlend wie die reine Medaillenzählerei auf den ersten Blick vorgaukelt, fällt die deutsche Bilanz freilich nicht aus, auch wenn man das beim DLV naturgemäß anders, schöngefärbter sieht. Der Sturm der Jugend auf Podiumsplätze nämlich blieb erneut aus, wieder waren es, wie schon bei der WM im letzten Jahr in Edmonton, in erster Linie die älter gedienten Kräfte, die für Erfolgserlebnisse sorgen konnten. Erschwerend hinzu kommt, dass bei all den Medaillen lediglich zwei Titel heraussprangen, der von Ingo Schultz und gestern das Gold in der 4 x 400 m-Staffel der Frauen. Ergebnisse, die auch bei einer WM bestehen könnten, zum Beispiel im nächsten Jahr in Paris, fehlten, mit Ausnahme des Stabhochsprungs und des Speerwurfs der Frauen, gleich gänzlich. Ins Bild passt da durchaus auch, dass der DLV von Junioren-Weltmeisterschaften auf Jamaika gerade mal zwei Medaillen mit nach Hause brachte. Indes: Was bei den Herren vom DLV durchaus für Alarmstufe Rot sorgen sollte, war zumindest dem Münchner Publikum ziemlich schnuppe. Es feierte einfach ein tolles Fest. FRANK KETTERER
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