: „Ich gelte als Grobschmied“
Nach 30 Jahren quittiert Pater Vincens seinen Dienst als Gefängnispfarrer in Tegel. Ruhestand kommt für den 72-Jährigen nicht in Frage. Der Verfechter von Law and Order wird Krankenhausseelsorger
Interview PLUTONIA PLARRE und WALTRAUD SCHWAB
taz: Pater Vincens, Verbrechen und Gott, wie haben Sie den Widerspruch 30 Jahre lang als Gefängnispfarrer ausgehalten?
Pater Vincens: Das ist kein Widerspruch. Nach dem Brudermord zählt Kain den sozialen Lastenkatalog auf, der bis heute gilt: Flüchtig bin ich / alles, was ich habe, verliere ich / unstet bin ich / nichts Neues mehr werde ich besitzen / jeder, der mich findet, kann mich erschlagen. Den vier ersten Punkten widerspricht Gott nicht. Beim fünften aber sagt er: „Ich werde dem Brudermörder Kain ein Zeichen machen. Wer Kain anrührt, wird siebenfach gerächt.“
Was heißt das?
Gott zieht den Täter zur Verantwortung, lässt ihm aber eine Lebenschance. Er verhindert die Selbstjustiz, die damals galt. Damit ist für mich auch die Todesstrafe erledigt. Das Grundmodell für alle Tat ist Versöhnung und Verantwortung.
Und wie setzen Sie diesen Auftrag um?
Ich bin hier nicht Gefangenenseelsorger, sondern Gefängnisseelsorger. Ich bin nicht Partei, sondern für Gefangene und Bedienstete gleichermaßen da. Der Tisch hier ist Kernpunkt der Versöhnung und des Friedens. Dieser Raum ist frei. Hier ist jeder gleich viel wert. Ob Bandit oder Uniformierter.
Sie sind ein Mann, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Einer mit Kommandoton.
Sicher, ich gelte in der Diözese Berlin als pastoraler Grobschmied. Ich sage immer: „Meine Filigranarbeit unter vier Augen kennt ihr ja gar nicht, wenn ich hier mit Gefangenen sitze oder mit Vater, Mutter, Gefangenem Versöhnung konstruiere.“ Die Ordensschwestern im St.-Marien-Krankenhaus in Lankwitz, für das ich demnächst zuständig sein werde, haben schon gesagt: „Herr Pater, bei uns schlagen Sie aber einen anderen Ton an.“
Ruhestand käme für Sie mit Ihren 72 Jahren nicht in Frage?
Die obere Behörde weiß nur allzu gut: Wenn ich ohne Arbeit bin, bastele ich Bomben, und das will keiner.
Bomben mit welchem Zündstoff?
Die Law-and-Order-Frage natürlich. Aber auch innerkirchlich gäbe es bestimmte Dinge, die ich aufgreifen würde. Da ist es ihnen lieber, ich tauche in Arbeit unter und es explodiert nur ab und zu was.
Als Sie 1972 angefangen haben, war das Zuchthaus in Tegel gerade abgeschafft.
Im Haus I roch es noch nach Kalk. Früher als es noch keine Toiletten in den Zellen gab, mussten die Verbrecher auf den Kübel gehen und über das große Geschäft Kalk schütten.
Wie war der Knast Anfang der 70er-Jahre?
Ich habe Zeiten mit 850 Insassen erlebt. Herrlich im Vergleich zu heute, mit über 1.700. Wir sind komplett überbelegt. Außerdem hatten wir Arbeit. Heute gibt es fast 500 Arbeitslose. In der Frage treffen sich Marxismus und Christentum. Beide sind überzeugt, dass der Mensch seinen Wert durch Arbeit erfährt. Arbeitslosigkeit geht an die Substanz. Das ist, was ich dem Vollzug zum Vorwurf mache: Wir lehren die Gefangenen nicht arbeiten. Hier drin gelten fünfeinhalb Stunden Arbeitszeit. Wenn sie draußen sind, müssen sie acht Stunden arbeiten und dann kommt der Kolonnenführer und ordnet noch zwei Überstunden an.
Ist das ein Plädoyer fürs Schuften?
Nein, der Gefangene muss einen Produktionswert erfahren. Es ist ein Erfolgserlebnis, wenn man sagen kann, heute habe ich 1.000 Schrauben gedreht.
Schrauben drehen ein Erfolg?
Mit seinem Bildungsgrad ist das schon ein Wert. Wenn ich die Werkstätten besichtige, bekomme ich mit Stolz gezeigt, was die Gefangenen gefertigt haben: „Pater, den Stuhl habe ich gemacht.“
Der Tegeler Anstaltsleiter Lange-Lehngut klagt, dass die Gefangenen im Vergleich zu früher nur noch auf ihren eigenen Vorteil bedacht seien.
Die deutschen Gefangenen – wir haben ja auch viele Ausländer hier – haben von draußen eine Krankheit mitgebracht, die heißt Single-Mentalität. Früher haben die deutschen Insassen zusammengesessen, gekocht, Pakete geteilt, sind so soziale Beziehungen eingegangen. Die Ausländer, vor allem die Russen, Türken und Araber, haben noch eine Gruppenmentalität.
Was würden Sie ändern, wenn Sie Gefängnisdirektor von Tegel wären?
Erstens gäbe es einen Acht-Stunden-Arbeitstag und dann eine Schwimmhalle, eine überdachte. Die Folgekosten spart man, indem man die Psychologen rausschmeißt. Schwimmen ist Therapie, das hat schon Franz von Assisi gesagt. Schafft Vertrauen. Selbstvertrauen. Ich sag immer: Wer seinen eigenen Körper nicht kennt, schätzt den Körper des anderen nicht. Die Leute können nichts. Die können nicht gehen, nicht stehen.
Ist Bodybuilding kein Ersatz?
Damit werden die Aggressionen doch erst richtig aufgebaut. In die Mucki-Buden werden nur bestimmte Kameraden reingelotst. Da gibt es keinen Beamten mehr, der es ordnet. Ich sage: Acht Stunden arbeiten und strukturierte Freizeit. Nicht nur Bolzen und ein bisschen Korbball, sondern Schwimmen, Gymnastik, Leichtathletik – außer natürlich Stabhochsprung. Alle diese Grundelemente, wo sie ihre Körper erfahren, Erfolg haben, aber auch ihre Grenzen begreifen.
Sie sind demnach ein Vertreter des autoritären Strafvollzugs.
Das ist die halbe Wahrheit, Madam. Paulus sagt, wir sind geboren für die Freiheit der Kinder Gottes, und die Kirche ist die einzige Gruppe im Gefängnis, die Freiheit möglich macht. Die Gefangenen können zum Gottesdienst kommen, müssen aber nicht. Der Sozialdienst der Kirche funktioniert auch ohne Kirchenbesuch. Da erleben sie Freiheit.
Wird das verstanden?
Ich sage, wenn ihr euch mit euch selbst nicht versöhnt, mit den Mitmenschen und mit Gott, dann ist der Rückfall programiert. 60 Prozent kommen zurück. Im Knast ist die Kirche der Ort, der Freiheit möglich macht. Wer aber am Gottesdienst teilnimmt, unterwirft sich einer bestimmten Liturgie. Ordnung.
Warum kommen die Leute?
Von den 300 Katholiken kommen im Schnitt 65 bis 75. Einer sagt: „Ich sitz in einem großen Raum, große Fenster, keine Gitter, alles andere interessiert mich nicht.“ Der will aus seinem Loch raus, setzt sich hin und atmet auf. Der andre sagt: „Ich will Musik live hören. Alles andere interessiert mich nicht.“ Da sehen sie, wie ein Mensch eine schöne Orgel bedient. Und dann haben wir Chöre, Instrumentalgruppen. So was organisiere ich.
Die Gefangenen kommen nicht, um zu dealen oder ein Paket abzustauben?
Die wissen genau, dass sie ihr Päckchen Tabak bekommen, wenn sie in Not sind, ohne dass sie den Gottesdienst besuchen müssen. Zum Dealen gibt es genug Gelegenheit. Beim Weg zur Arbeit, beim Sport, im Kultursaal. Die Leute wissen ganz genau, bei mir läuft nichts. Bei mir herrscht Ruhe im Beritt. Hinten sitzen sechs Beamte. Wenn Neue reinkommen und so gucken, dann sag ich „Connection draußen auf Station Dora 4. Verstanden.“
Warum sind Sie Gefängnispfarrer geworden?
Ich wurde vom Weihbischof gefragt, ob ich nach Tegel gehen will. „Ja, ich gehe.“ Nach dem „Zweiten Vatikanischen Konzil“ nennen wir das den „intelligenten Gehorsam“.
Zufall und keine Berufung?
Bei einem Franzosen hab ich gelesen, dass Zufall das Pseudonym Gottes ist, wenn er nicht selber unterschreiben will.
Ist Harald Poelchau, Gefängnispfarrer unter den Nazis und im Widerstand aktiv, Ihr Vorbild?
Poelchau – große Gestalt, wie auch der Prälat Peter Buchholz. Pater Delp. Bonhoeffer. Die prägen schon meinen Geist.
Also innerhalb der Institution Widerstand leisten?
In Tegel gilt das uralte Modell Vater Staat und Mutter Kirche. Der Anstaltsleiter Lange-Lehngut und ich haben uns nie ein böses Wort, aber oft die Wahrheit gesagt. Immer unter vier Augen. Vater Staat – ordnende Funktion. Mutter Kirche – die schützende und versöhnende Funktion. Das sozial-anwaltliche. Das werfe ich immer den Sozialarbeitern vor, dass sie da versagen.
Warum?
Weil sie Erfüllungsgehilfen der Verwaltung sind. Apparatschiks.
Wie das?
Die Gefangenen wollen keinen „Lebensentwurf“, keine „Sozialberatung“, die wollen wissen: Was gibt das BSHG her: Arbeit, Wohnung, Entlassungsvorbereitung, diese konkrete Wirtschaftsfürsorge. Das wollen sie haben.
Was macht die Seelsorge besser?
Die Sozialarbeiter haben immer Angst, dass wir mehr wissen als sie. Das ist ja auch der Fall. Die Seelsorge ist keine christliche Sozialarbeit, sondern Seel-Sorge. Daraus wächst eine soziale Stabilität, ein Ja zu dir selbst, Versöhnung, Vergebung.
Das schaffen Sozialarbeiter und Therapeuten nicht?
Manchmal kommen die Leute von der Therapie zu mir und sagen: „Ich will ein Gespräch.“ Da merke ich wieder, wo die Grenze ist. Ich war immer dagegen, dass die Psychologen verbeamtet werden. Ich war immer dafür, dass sie auf Honorarbasis arbeiten. Erstens ist die Effizienzkontrolle leichter und du kannst sie rausschmeißen. Und aus Sicht der Gefangenen gilt: Der ist Beamter, also ist er im Loyalitätskonflikt, und da überlegen sie sich natürlich, was sie ihm sagen.
Muss man als katholischer Gefängnispfarrer nicht sehr oft eine Toleranz an den Tag legen, die den Vorgaben der Kirche widerspricht. In Fragen von Homosexualität, Aids …
Homosexualität ist für mich keine Lebensform, aber der einzelne Homosexuelle verdient Seelsorge. Da wo er sie will und braucht, kriegt er sie. Aber Eheschließung ist Quatsch.
Als Pater sind Sie gleichzeitig Anhänger des Militärs. Müssen Sie als Glaubensmensch da nicht ihre Wahrnehmung ein bisschen beugen? Das Militär eine Friedensorganisation?
Wir haben eine Verteidigungsarmee und moraltheologisch ist es legitim, sich bewaffnet zu verteidigen. Ich bin, das sage ich auch offen und ehrlich, Anhänger des finalen Rettungsschusses. Damals, als die RAF hier war, hab ich zum Sicherheitsschef gesagt: „Nehmen die mich als Geisel, dann setzt die besten Schützen auf den Kirchturm, aber weh, ihr trefft mich.“ Da habe ich klare Vorstellungen. Vielleicht sind die auch noch vom Krieg beeinflusst.
Was haben Sie da erlebt?
Der Patrick, ein Freund meines Bruders, ist mit mir im Gefechtsstand gewesen. Wir waren zwei Melder. Er musste raus beim Wilden Eber im Grunewald und da ist er erschossen worden. Die Besten sind gefallen. Mit diesem Satz muss ich leben. Dieser Satz verfolgt mich immer. Der Patrick, ein prächtiger Junge, tolle, innere Qualitäten.
Die, die überlebt haben, sind Feiglinge?
Ich sag: Die Gefallenen sind die Besseren.
Das ist doch Quatsch.
Patrick hatte ganz helles Haar. Ich habe den Verdacht, er hat seinen Helm abgenommen und sein Kopf mit den strohblonden Haaren leuchtete.
Was halten Sie von Deserteuren?
Das ist für mich eine schwierige Klientel. Bei uns zu Hause verkehrten Offiziere, die im Dunstkreis des 20. Juli waren. Tolle Leute, junge Offiziere. Meine Mutter hatte eine Reitschule und da liehen sie Pferde aus und ritten in den Grunewald und trafen sich mit anderen. Also Tyrannenmord ist für mich legitim. Wir hatten auch drei Juden versteckt bei uns im Haus.
Bis zum Kriegsende?
Ja. Knapp drei Jahre lang. Ich hab für sie Volkssturmausweise geklaut. Jeder Mann brauchte so einen. Mit Stempel und Unterschrift. Noelte mit oe hat auf meinem unterschrieben. Da habe ich die Unterschrift gefälscht.
Nochmal zurück zu Ihrer Knastarbeit: Was war in all den Jahren Ihre größte Niederlage?
Erlebter Selbstmord. Alle zwei, drei Jahre müssen wir mit einem Selbstmord rechnen. Das ist immer eine Niederlage. Da stand einmal einer vor der Tür nachmittags. Meine Bude war voll. „Ich muss Sie sprechen, Herr Pater. Ich sag, das schaff ich nicht mehr.“ In der Nacht hat er sich aufgehängt. Ich weiß nicht mehr den Namen, aber ich weiß die Szene an der Tür da vorne. Das war schlimm für mich.
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