: So feilschen Sie auf dem Gipfel
aus JohannesburgBERNHARD PÖTTER
1. Bringen Sie Ihre Lesebrille mit.
Auf dem UN-Gipfel gibt es für Sie als VerhandlungsführerIn bergeweise Papier zu lesen. Vieles davon ist ein Fall fürs Recycling. Aber das wichtigste Dokument hat 72 eng bedruckte Seiten, zehn Kapitel und 153 Absätze: Der Entwurf eines Umsetzungsplans, der die Agenda 21 von Rio in konkrete Handlungen übersetzen soll. Vor Ihnen liegt dieses kleine Buch, das auf der Vorbereitungskonferenz in Bali nur zu 70 Prozent beschlossen wurde. Alle umstrittenen Fragen wurden in Klammern gesetzt, und inzwischen haben Sie und Ihre Kollegen sich bis auf zehn oder fünfzehn Prozent geeinigt. Herzlichen Glückwunsch. Aber das sagt nichts darüber, was Ihnen noch bevorsteht. Denn an den letzten drei bis fünf Prozent werden Sie noch zu knabbern haben.
2. Legen Sie sich eine eiserne Kondition für Marathonsitzungen zu.
Lassen Sie sich nicht irritieren, wenn die Zeitungen zu Hause schreiben, Sie würden in Saus und Braus leben. Keine Angst: Man sieht Ihnen an, dass Sie morgens früh mit den Sitzungen beginnen und bis zum nächsten Morgen um drei um ein paar Prozentpunkte oder Jahreszahlen feilschen. Stählen Sie Ihren Körper und Ihre Nerven durch Yoga oder Kampfsport. Sie wollen schließlich nicht enden wie die französische Umweltministerin Dominique Voynet, die 2000 die Klimaverhandlungen in Den Haag im entscheidenden Moment abbrechen musste, weil sie zu müde zum Nachdenken war.
3. Finden Sie das richtige Gremium für die richtige Verhandlung.
In dem Gewusel der Delegierten und dem Wirrwarr der Verhandlungsgruppen kann man schon mal verloren gehen. Also: Wenn Sie die Sonntagsrede halten wollen, die Ihren Referenten so viel Schweiß gekostet hat, dann gehen Sie ins Plenum vor die Kameras der Welt. Wenn Sie ernsthaft verhandeln wollen, gehen Sie in die Wien-Gruppe (Vienna Group), wo sich die großen Blöcke EU, USA und Verbündete und die Entwicklungsländer der G 77 treffen. Wenn Sie sich dort nicht einigen können, sondern eine kleine Expertenrunde brauchen, begeben Sie sich in die „Kontaktgruppen“, die ad hoc zu bestimmten Themen eingerichtet werden. (Aber Vorsicht: Da sitzen oft spezialisierte Beamte, die keine politischen Deals machen und sich an ihren Zahlen festklammern). Wenn Sie Ihren Verhandlungspartnern einen Deal vorschlagen wollen, der die Themengrenzen überschreitet (etwa: Agrarsubventionen gegen erneuerbare Energien), dann machen Sie sich mit der Ashe-Gruppe vertraut, die vom Botschafter Ashe aus Haiti geleitet wird. Erst wenn das alles nicht mehr hilft, belästigen Sie Ihren Regierungschef mit diesen Fragen. Er muss sie dann am Ende des Gipfels mit seinen Kollegen klären.
4. Behalten Sie stets den Überblick über die Verhandlungsthemen.
Da ist erstens Wasser: Sie als EU-Verhandler wollen festschreiben, dass die Zahl der 2,5 Milliarden Menschen ohne Toiletten bis 2015 halbiert wird. Seltsamerweise sind die USA dagegen. Dann Energie: Sie möchten gern einen Beschluss, dass 2010 insgesamt 15 Prozent der Energieerzeugung aus regenerativen Energien kommt. Auch das wollen die USA und ihre Verbündeten verhindern. Aber 30 Entwicklungsländer unter der Führung von Brasilien überholen Sie auf der Öko-Spur: Sie haben vorgeschlagen, nur 10 Prozent anzupeilen, aber dafür die großen, umweltfeindlichen Staudämme nicht zu berücksichtigen. Beim Thema Globalisierung streiten Sie mit Ihren Kollegen darum, ob der Prozess jetzt als gut oder schlecht zu bewerten ist und ob man Unternehmen für soziale und ökologische Schäden haftbar machen kann. Beim Kapitel Biodiversität möchten Sie eine Verpflichtung erreichen, dass der Trend des Artensterbens bis 2010 umgekehrt wird. Sie möchten weiterhin ein Zehnjahresprogramm durchsetzen, das schädliche Produktion und Konsum in den Industriestaaten auf Nachhaltigkeit trimmt, also etwa den Spritverbrauch von Autos senkt. Sie kämpfen für den Erhalt zweier Prinzipien von Rio: Das Vorsorgeprinzip und das der „gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung“. Das erste heißt, dass man auch ohne den letzten wissenschaftlichen Beweis Schutzmaßnahmen gegen potenziell gefährliche Umweltveränderungen wie den Klimawandel ergreifen sollte. Das zweite bedeutet, dass die Länder des Nordens sich an der Entwicklung des Südens und am globalen Umweltschutz beteiligen müssen. Beide Prinzipien werden von der Gruppe der USA in Frage gestellt. Und beim Thema Handel versuchen Sie, die USA und Ihre eigenen Verbündeten in Europa dazu zu bringen, die Exportsubventionen für Agrarprodukte zu beenden und den armen Länder mehr Zugang zu Ihren Märkten zu ermöglichen. Ganz zum Schluss versuchen Sie noch, eine Aufforderung an alle Länder unterzubringen, das Kioto-Protokoll zum Klimaschutz zu unterzeichnen. Da kann man schon mal den Überblick verlieren.
5. Sortieren Sie auf jeden Fall Ihre Freunde und Gegner.
Japan, die USA, Kanada, Australien und Neuseeland (Gipfel-Slogan: JUSCANZ) spielen bei vielen Themen die Rolle der Bremser. Die Entwicklungsländer (G 77 und China) sind sehr schwer einzuschätzen. Traditionell werden sie von den Opec-Staaten dominiert, und auch jetzt ist das Ölland Venezuela Vorsitzender. Doch Lateinamerika oder die asiatischen Inselstaaten (Achtung: Verlierer des Klimawandels) haben durchaus ihren eigenen Kopf. Und große, einflussreiche Länder wie Südafrika (Gastgeber), Brasilien (Rio-Gastgeber) oder Indonesien (Bali-Gastgeber) wollen den Gipfel erfolgreich sehen. Die deutschen Beziehungen zu China und in den Iran wirken sich vielleicht positiv aus auf die Bereitschaft zur Kooperation.
Aber lehnen Sie sich als EU-Vertreter nicht selbstzufrieden zurück.Vor allem beim Thema Agrarsubventionen und Marktzugang für Entwicklungsländer sperren sich etwa Frankreich, Spanien oder Irland mit Händen und Füßen. Da sind vielleicht sogar die USA konzilianter.
6. Beruhigen Sie Ihren Finanzminister.
Natürlich kostet das Umsteuern zu nachhaltiger Entwicklung viel Geld. Aber in Johannesburg wird darüber nicht verhandelt. Das ist bereits im März 2002 in Monterrey geschehen. Die EU hat beschlossen, sich an alte Versprechen zu halten und bis 2006 insgesamt 20 Milliarden Euro mehr für diese Projekte auszugeben. Die USA planen, drei Jahre lang jeweils fünf Milliarden Dollar zur Verfügung zu stellen – immer noch weit hinter den Versprechen von Rio. Aber in Johannesburg wird niemand noch einmal die Brieftasche aufmachen.
7. Machen Sie sich gefasst auf Überraschungen.
Auch wenn Sie sich noch so gut vorbereitet haben und Ihre Mitarbeiter Sie vollständig ins Bild gesetzt haben: In einer Sitzung kann schon mal abrupt das Thema wechseln und Sie ahnungslos zurücklassen. Das ist schon anderen Unterhändlern vor Ihnen passiert.
Denken Sie daran: Der Gipfel ist kein Kaffeekränzchen. Hier wird mit Haken und Ösen gearbeitet. Seien Sie nicht überrascht, wenn von irgendwoher plötzlich Papiere auftauchen, die ihre monatelange Arbeit in Frage stellen. So haben EU-Handelkommissar Lamy und der US-Gesandte am Beginn des Gipfels ein „non-paper“ zu den umstrittenen Fragen des Handels erstellt, dass die G 77, eigentlich ein Verbündeter der EU, vor den Kopf stieß. War das Sabotage?
8. Feiern Sie Ihre bisherigen Erfolge …
Bis 2015 sollen die Fischbestände so weit geschont werden, dass sie sich von der gnadenlosen Überfischung erholen können. Bis 2020 soll nach einem Konsens der schädliche Einfluss von Chemikalien auf die menschliche Gesundheit minimiert werden. Bis 2004 sollen die Gesundheitsprobleme durch Umweltverschmutzung begrenzt werden und 2005 sollen geschlechtsspezifische Unterschiede in den Erziehungssystemen beseitigt sein. Ebenfalls bis 2005 soll es eine Ernährungsstrategie für Afrika geben.
9. … aber achten Sie auf das Kleingedruckte.
Die kleinen Textpassagen „wenn möglich“ und „wo es passt“ finden sich etwa im Konsens über die Fischbestände genauso wie bei den Chemikalien und bei den Vorschlägen zum Subventionsabbau. Sie können in einer ansonsten harten Forderung riesige Schlupflöcher schaffen. Das sind die kleinen Wermutstropfen in Ihren Gipfelerfolgen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen