leben in fußballland: CHRISTOPH BIERMANN ist Tabellenführer
Nie mehr kiffen müssen
Seit einiger Zeit – oder um es ganz präzise zu sagen: seit 20 Tagen – hat mein Leben eine merkwürdige Wendung genommen. „Bleibt alles anders“, würde Herbert Grönemeyer, von dem später noch die Rede sein soll, singen. Wobei natürlich nicht alles anders ist, aber die Dinge doch so durcheinander geraten sind, dass ich nicht recht weiß, was ich damit anfangen soll.
Ein wenig Halt und Orientierung finde ich derzeit im Internet, dessen therapeutische Wirkung nicht zu unterschätzen ist. Besonders hilfreich sind die Foren, in denen sich Menschen mit Essstörungen, Selbstmordtendenzen oder Fußballbegeisterung zum Austausch existenzieller Fragen treffen. Auch die Anhänger des VfL Bochum haben ein solches Forum, in das sie Beiträge von oft bescheidener intellektueller Qualität und mitunter verheerender Orthografie posten. Doch so fragwürdig das Gebrabbel auch ist, schaue ich inzwischen regelmäßig dort vorbei, denn zweifellos teile ich mit den meisten Besuchern ein Problem: Unser Klub ist Spitzenreiter.
„Endlich schwelgen können, ohne kiffen zu müssen“, ist mein absoluter Forums-Lieblingssatz, dessen Schreiber be-rauscht das Ruhrstadion verlassen hatte, nachdem der VfL Bochum mit 5:0 gegen Energie Cottbus gewann und zum ersten Mal überhaupt Spitzenreiter in der Bundesliga wurde. Ist doch eine prima Sache, dass man für ein wenig Glückseligkeit ums Ruhrstadion kein gehirnerweichendes Haschisch braucht, könnte man meinen. Und wo denn nun das Problem sein soll, wo doch Tabellenführungen eine ganz normale Sache sind.
Doch den eher VfL- als THC-berauschten Einlassungen in besagtem Forum merkt man an, dass eine Tabellenführung in Bochum für echte Identitätsprobleme sorgt. „Ich werde psychisch nicht damit fertig“, schreibt einer, und ich kann ihn bestens verstehen. Die Welt des VfL Bochum ist ewiger Abstiegskampf, Fahrstuhlfahrten zwischen den Ligen, Schmerz, Trauer – und immer wieder Hoffnung. Ein zähes „Ihr da oben, wir hier unten“ ordnet die Welt seit Anbeginn. Am 9. März 1974 habe ich zum ersten Mal ein Spiel im Ruhrstadion gesehen, das damals noch Stadion an der Castroper Straße hieß, und in den mehr als 28 Jahren danach war mein Klub nicht ein einziges Mal Spitzenreiter der Bundesliga (davor selbstverständlich auch nicht).
So schaute ich zwar am Abend des zweiten Spieltags mit debilem Grinsen viel zu lange auf die Tabelle im Videotext, befürchte aber seither, dass mein Leben ein anderes werden könnte. Noch verwirrender wurde es nämlich, als die Mannschaft auch eine Woche später noch oben stand, nachdem ich zugesehen hatte, wie sie völlig verdient bei Bayer Leverkusen siegte und die verteidigte Tabellenführung mehr als eine historische Kuriostät war. Auch die Gückwünsche von Freunden und Bekannten häuften sich und die Frage wurde öfter gestellt: Wie man sich als Spitzenreiter denn so fühle? Das hatte einen seltsamen Unterton, als wollte erkundet sein, wie es denn so mit Claudia Schiffer als neuer Partnerin ist oder wie sich der Job als Chefredakteur des Spiegel anfühlt.
Sieger waren mir aber immer schon langweiliger als jene, die interessant zu scheitern wissen. Deshalb fand ich es auch besonders cool, Anhänger des VfL Bochum zu sein, weil es im Grunde haltlos uncool ist. Und es erschien mir auch etwas dubios, dass Herbert Grönemeyer seine neue Platte dieser Tage mit dem Hinweis vorstellte, er würde blau-weiße Unterwäsche tragen, nachdem er sich jahrelang nicht mehr zum VfL Bochum bekannt hatte.
Doch neben diesen ideologischen und identitätspolitischen Verschwurbelungen gibt es ein ganz praktisches Problem: Es kann nur schlechter werden. Als Vierzehnter kann man davon träumen, Elfter oder gar Fünfter zu werden. Doch der Erste lebt mit der nagenden Gewissheit, dass der Tag kommen wird, an dem er es nicht mehr ist. Außer beim VfL Bochum, der jetzt mal eine Zeit mit dem Leiden aussetzen, die Tabellenführung an den kommenden 31 Spieltagen nach Hause spielen und die Psychotherapeuten der Stadt reich machen wird.
Fotohinweis: Christoph Biermann (41) liebt Fußball und schreibt darüber.
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