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Jenseits der Klischees

Auch in der wissenschaftlichen Forschung über Migranten existieren hierzulande Legenden: der Ausländer als Opfer, der Ausländer als Bedrohung der Stadt. Doch langsam ändern sich die Perspektiven VON MARK TERKESSIDIS

Ein Hoffnungsschimmer: Neuerdings sind auch Migranten in der Forschung tätig

Eigentlich sollten Wissenschaft und Klischee ja Gegensätze sein. Für die deutsche Forschung rund um das Thema Migration freilich gilt dies nicht – seit Jahrzehnten herrscht hier eine erstaunliche Komplizenschaft mit dem Gemeinplatz. Zu solchen Gemeinplätzen zählen:

Der Jugendliche mit Migrationshintergrund ist ein armseliges Wesen, das „zwischen zwei Kulturen“ dahinsiecht. Zweites Beispiel: Migranten in der Stadt sorgen für Ärger im Alltagsleben und den Zerfall des Gemeinwesens. Drittes Beispiel: Rassismus ist in erster Linie ein moralisches Problem der einheimischen Gesellschaft – Migranten sind immer nur betroffene Objekte.

Mittlerweile allerdings regt sich auch in der Wissenschaft mehr und mehr die Forderung nach einem Perspektivenwechsel. Das liegt nicht zuletzt an der zunehmenden Präsenz von Forschern und Forscherinnen mit Migrationshintergrund. Einer von ihnen ist Tarek Badavia, Pädagoge an der Universität Mainz, der gerade eine Doktorarbeit mit dem Titel „Der dritte Stuhl“ vorgelegt hat. Ein weiterer Erol Yildiz, ebenfalls Pädagoge, der kürzlich mit seinen Kollegen von der Forschungsstelle für Interkulturelle Studien (FiSt) eine Untersuchung über „Die multikulturelle Stadt“ fertig stellte. Zu nennen ist auch Manuela Bojadzijev, Politologin, die an einer Dissertation über den „Antirassistischen Widerstand von MigrantInnen“ arbeitet und eine Ausgabe der Zeitschrift 1999 zum gleichen Thema mit herausgegeben hat.

Tarek Badavias Arbeit widerspricht dem Klischee vom armen, zerrissenen Migranten. In einer ausführlichen Befragung von „bildungserfolgreichen“ Immigrantenjugendlichen zu ihrer Identität stellt er fest, dass die Jugendlichen keineswegs „zwischen zwei Stühlen“ darben, sondern produktive Formen einer „bikulturellen Orientierung“ finden – sich also selbst einen „dritten Stuhl“ zimmern. Die Kinder von Migranten empfinden sich keineswegs von vornherein anders – der Konflikt beginnt, wenn sie von der einheimischen Umgebung als anders definiert werden. Wenn ein Lehrer vor der Klasse über einen Schüler türkischer Herkunft sagt, dass „der Eren als Türke die beste Arbeit geschrieben“ hat, fällt dem Jungen auf, dass er offenbar nicht dazugehört. Es ist die Konfrontation mit Vorurteilen – wohlmeinenden wie bösartigen –, die die Jugendlichen aus ihrer „bisher vertrauten Umgebung“, ihrer Normalität, herausreißt und zu einer Auseinandersetzung mit ihrem Status zwingt. Die Beschäftigung mit der eigenen Position führt in den meisten Fällen nicht zur Zurückweisung der „deutschen Kultur“ oder dem Gefühl der Zerrissenheit, sondern zur Definition eines neuen, „bikulturellen“ Status. Diese „enorme individuelle Integrationsleistung“, so Badavia, wird in der Bundesrepublik jedoch nicht anerkannt – und das ist das eigentliche Problem.

Die empirische Herausarbeitung der „neuen sozialen Position“ ist die Stärke von Badavias Untersuchung. Jedoch weist die Arbeit theoretische Schwächen auf, wenn trotz Perspektivenwechsels offizielle Redeweisen übernommen werden. So geht auch Badavia davon aus, dass die zwei Kulturen – die deutsche und die jeweils ausländische – tatsächlich eine substanzielle Existenz besitzen. Gerade seine Ergebnisse zeigen aber deutlich, dass es vielmehr um voneinander abhängige und flexible soziale Positionierungen geht, die mit der Berufung auf Kultur abgesichert werden.

Um den üblichen Redeweisen zu entkommen, hat das Team der FiSt bei seiner Untersuchung der „Selbstverständlichkeit im städtischen Alltag“ mehr theoretischen Aufwand getrieben. Die ForscherInnen klagen einen Perspektivenwechsel in Bezug auf Klischee Nummer zwei ein. Zum einen: Warum immer davon ausgehen, dass Individualisierung und Vielfalt in der Stadt zu Zerfall führen? Warum nicht die Prozesse des funktionierenden Zusammenlebens und der Partizipation in einem Stadtteil unter die Lupe nehmen? Zum anderen: Warum den Begriff Multikulturalität von vornherein ethnisch zurechtstutzen? Warum nicht kulturelle Vielfalt allgemein in den Blick nehmen, wobei Ethnizität nur einen Unterschied unter vielen markiert? In einem langen theoretischen Vorlauf, der sich auf die Ergebnisse von Individualisierungsthese, Postmoderne-Ansätzen und Systemtheorie stützt, umkreisen die AutorInnen ihren Gegenstand, den sie schließlich als „soziale Grammatik eines Quartiers“ bezeichnen. Diese Grammatik wird anhand des Kölner „Veedels“ Ehrenfeld beschrieben – über Einzelbiografien, Wohnverhältnisse, Kommunikationsstrukturen, die Situation an Schulen und am Arbeitsmarkt. Das umfangreiche Material belegt, was das FiSt-Team bereits zu Beginn postulierte: dass es eine „soziale Grammatik“ des Viertels gibt, dass der Alltag der postmodernen Stadt ein Leben ausbildet, das zwar konfliktreich sein kann, aber dennoch „dicht und koorientiert“ ist. Dabei entpuppt sich die Betonung des hohen „Ausländeranteils“ als Quell von Problemen als Mythos – als „Ausländer-Mythos“.

Nun könnte man dem FiSt-Team vorwerfen, dass es das Material bloß zur Illustration des vorab beschlossenen Ergebnisses verwendet. Doch der Studie geht es um anderes: die Begründung eines Perspektivenwechsels für zukünftige Forschung.

Einen solchen Perspektivenwechsel fordert auch Manuela Bojadzijev in der Zeitschrift 1999 ein – in einem programmatischen Artikel über „Antirassistischen Widerstand von Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik“. Sie kritisiert das eingangs erwähnte Klischee Nummer drei: dass Rassismus primär ein Problem der und für die „deutsche“ Gesellschaft sei. Erkenntnisse über die Funktionsweise des Rassismus gewinnt man nach ihrer Auffassung nicht durch die Konzentration auf die moralischen Verfehlungen der Einheimischen, sondern im Blick auf den Widerstand der Migranten. Indem Bojadzijev Streiks, Häuserkämpfe und „Exilpolitik“ konkret analysiert, kann sie zeigen, dass Rassismus und Antirassismus zusammengehören. Migranten sind keineswegs nur passive „Objekte“ des Rassismus – der Rassismus in den Institutionen und im Alltag ist auch Reaktion auf deren Renitenz. Drei Perspektivenwechsel also: Es tut sich etwas in der Migrationsforschung. Und so darf man nach Jahrzehnten des Stillstands vielleicht hoffen, dass diese Forschung endlich doch noch vom Kopf auf die Füße fällt.

Tarek Badavia: „Der dritte Stuhl“, 372 Seiten, IKO-Verlag, 2002, 19,80 €. – W.-D. Bukow/C. Nikodem/E. Schulze/ E. Yildiz: „Die multikulturelle Stadt. Von der Selbstverständlichkeit im städtischen Alltag“, 475 S., Leske + Budrich 2002, 24,90 €. – 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 1/02, „Kämpfe der Migration/Vernichtungsforschung“, 238 S., Peter Lang Verlag 2002, 19,40 €

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