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barbara dribbusch über GerüchteKlettern in der Big-Ego-Tour

Am Sonntagabend ist alle Buhlerei vorbei – danach sind wir Wähler nur noch Ramschware

Das Wichtigste im Wahlkampf ist bekanntlich die Selbsterfahrung. Der Wähler. Denn im Wahlkampf begegnet der Bürger gewissermaßen sich selbst: dem eigenen Hochgefühl, das ihn hybrid mit dem noch leeren Stimmzettel wedeln lässt: „Na, ihr Politiker, wart ihr auch schön artig? Sonst wähle ich euch nämlich nicht!“ Doch dieser Größenwahn findet ein jähes Ende am kommenden Sonntag. Danach sind die Stimmzettel voll und wir nur noch Ramschware. Noch wenige Tage also. Die sollte man genießen.

„Die Grünen wähle ich diesmal nicht“, hat zum Beispiel mein Kletterpartner Pit beschlossen. An diesem Morgen bin ich mit Pit unterwegs, wir wollen zum ersten Mal in die Kletterhalle nach Berlin-Wedding. „Diese Show vom Fischer“, seufzt Pit, „man kann es nicht mehr hören, sehen und lesen.“

Mich beschäftigt gerade ein anderer, wirklich beunruhigender Tatbestand. In der neuen Kletterhalle, so habe ich dem Internet entnommen, gibt es einen „expert wall“ und einen „beginners wall“. Ab wann ist man eigentlich „expert“? frage ich mich heimlich. Ich sehe Pit und mich schon am „beginners wall“ hängen, während die Sportkletterclique um Winni großmäulig am „expert wall“ die Siebener-Touren hochsteigt, die ich nicht schaffe. Schwere Touren tragen oft auch noch Namen wie „Big Ego“ oder „High Profile“. Die zarten Fünfer- oder Vierertouren müssen sich dagegen mit Bezeichnungen wie „soft steps“ oder „sun tan“ zufrieden geben. Pit und ich am „beginners“ – es wäre eine Demütigung.

Pit hat zum Glück nicht ins Internet geguckt und bleibt beim Thema. „Fischer mit seinen abgestandenen Bergsteiger-Metaphern“, fährt er fort, „wenn ich das Gefasel schon lese, von wegen ‚Nur die Besten schaffen es bis auf den Gipfel des Mount Everest‘, da wird einem schlecht.“ – „Fischer würde es doch nicht mal bis zum Lager zwei machen“, gebe ich zurück, „schau dir mal seine Figur an.“ Man wird ja als Bürger immer ein bisschen piefig im Wahlkampf. Obwohl Harald Schmidt sicher Recht hat mit seinem Spruch, für Fischer sei die Politkarriere auch ein Fettverbrennungsprogramm.

„Es bringt doch nichts, dich an Fischer zu rächen, indem du die Grünen nicht wählst“, fahre ich fort, „das ist kleinlich.“ Ich will diesmal großzügig bleiben in der Wahlkabine, kein unreifes Aufbegehren, keine niedrigen Rachegelüste, auf die danach nur wieder Schuldgefühle folgen.

Im Autoradio läuft Herbert Grönemeyers Hit „Mensch“: „Es ist okay, alles auf dem Weg (h-Moll/e-Moll), es ist Sonnenzeit, unbeschwert und frei (A-Dur/D-Dur), der Mensch heißt Mensch, weil er vergisst, weil er verdrängt …“ Streicher auf e-Moll kommen immer gut, sogleich wird einem warm ums Herz. Das Leben ist einfach, die Gefühle auch.

„Grönemeyer kommt irgendwie schon authentisch rüber“, sagt Pit anerkennend, „obwohl die Musik kitschig ist.“ „Der wirkt authentisch, weil seine Frau tatsächlich gestorben ist“, meine ich, „Leiden verleiht den Leuten Charisma.“

„Grönemeyer hat wirklich was durchgemacht“, sagt Pit, „aber Fischer! Dieses Gerede von Einsamkeit, Kälte und der dünnen Luft, die oben auf dem Berg herrscht, wo es nur die ganz Großen hin schaffen.“ Ich habe mich auch schon gewundert, wie es Fischer immer schafft, Journalisten seine abgenutzen Machtmetaphern in den Block zu drücken. Wo doch jeder Bergsteiger weiß, dass dünne Luft dumm macht, die Kälte schlapp und Einsamkeit starrsinnig.

Mehr noch aber beschäftigt mich die Sache mit dem „expert wall“. Die Wand ist die höchste in der Halle, 15 Meter. Eine Sauerei, dass die höchste Wand auch die mit den schwersten Griffen ist. Das müsste nicht so sein. Wer sagt, dass Höhe etwas mit Leistung zu tun haben muss? Eben.

„Am Sonntag sind die Wähler die Kings“, führt Pit die Diskussion fort, „fast könnte man sich schon unwohl fühlen, an diesem Tag über das Schicksal so vieler fremder Menschen entscheiden zu müssen. Schröder, Fischer, Stoiber, wer sind die überhaupt?“

„Vielleicht ist das mit dem Authentischen auch verlogener Quark“, fällt mir ein, „ich meine, Mick Jagger finden wir gut, auch wenn wir wissen, dass er es gar nicht ernst meint mit ‚Baby, I love you‘.“ – „Die Leute wollen einfache Botschaften“, sagt Pit, „das ist es.“ Einfache Botschaften, e-Moll, Streicher, alles ist okay, das will man hören. „Teil mit mir deinen Frieden, wenn auch nur geborgt. Ich will nicht deine Liebe, ich will nur dein Wort“, schnarrt Grönemeyer aus dem Radio. Er ist die Fortsetzung des Kirchentages im deutschen Schlager. Beeindruckend. Ich will auch einfache Botschaften, ja genau.

Wir sind im Wedding angekommen. Die Kletterhalle hat zu. Ich hätte genauer auf die Öffnungszeiten achten sollen. „Wir kommen nächste Woche wieder“, meint Pit. Dann ist der Wahltag vorbei. Und ich wette, wir hängen am „beginners wall“. Was soll’s.

Fragen zu Gerüchten: kolumne@taz.de

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