: Sonnenland im Schatten
„Die Politiker sind schuld, wenn hier immer mehr Scheiß passiert“: Jugendliche aus einem Problemviertel klagen an. Denn sie wissen genau, dass es woanders bessere Angebote gibt
von SANDRA WILSDORF
Wer nach Sonnenland kommt, fragt sich, ob der Namensgeber ein Zyniker war. Wenige Einzelhäuser stehen zwischen vielen Hochhäusern. Vor einem Gebäude, das aussieht, als wäre es mal ein Einkaufszentrum gewesen, schlagen Männer ihre Tage tot, der Alkohol assistiert. Der einzige Supermarkt ist längst weggezogen, der nächste liegt fünfzehn Minuten zu Fuß entfernt. Er ist für viele Leute zu weit weg – und außerdem ein Edeka. Einmal die Woche fährt deshalb ein Bus vom Stadtteilprojekt Sonnenland zum nächsten Aldi.
Und heute ist die Hamburger Tafel in das Projekt in Ost-Billstedt gekommen. Sonnenländer stehen Schlange nach einer Tüte voller Vitamine. „Spinat? Natürlich esse ich gerne Spinat“, sagt eine ältere Frau. „Ernährung ist hier ein großes Problem“, sagt Sven Duncker, Mitarbeiter des Trägervereins, der seit über 30 Jahren Gemeinwesenarbeit in der Siedlung leistet. Kinderprogramme, Stadtteilkultur, Mädchenarbeit, Hilfe für SchülerInnen, familiäre Krisenintervention, Fußballverein und Seniorengruppe: Das Stadtteilprojekt kümmert sich um alle.
Und das wird immer schwerer. Knapp 300.000 Euro wurden dem Projekt seit 1994 gekürzt. Der neue Senat hat die zwölf Stellen des studentischen Arbeitsprogramms gestrichen. Schon bereitgestellte Mittel zur Sanierung einer alten Kate wurden gesperrt. Eine in diesem Juli frei gewordene Stelle hat der Jugendhilfeausschuss unter Vorsitz des SPD-Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs noch immer nicht zur Wiederbesetzung freigegeben. „Aus Wahlkampfgründen“, argwöhnen die Sonnenländer. „Weil wir noch mit der Behörde verhandeln, ob wir Restmittel mit ins neue Jahr nehmen können“, sagt Kahrs. So lange unklar sei, wie viel wirklich gespart werden müsse, werde im ganzen Bezirk Mitte keine Stelle wiederbesetzt.
Dabei ist Sonnenland alles andere als Sonnenland, es ist ein Armutsviertel. Entstanden in den 60er Jahren, als es Mümmelmannsberg noch nicht gab, leben hier überwiegend Deutsche, die meisten von Rente, Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld. Es gibt hier nicht viel, und die Jugendlichen wissen sehr genau, was es woanders gibt. „In Mümmel, da haben sie Karts, und wir haben nicht mal Fahrräder“, sagt ein 15-Jähriger. Er gehört zu denen, die fast jeden Tag ins Stadtteilprojekt kommen. „Wir holen immer nur den Sperrmüll ab. Wir sind der Sperrmüll“, sagt ein anderer. Den Billardtisch haben sie von einem Haus der Jugend bekommen: „Die wollten den nicht mehr.“ Genauso wie die Sessel und Sofas.
Mit der Schule haben die meisten Jugendlichen hier längst abgeschlossen. Oder die Schulen mit ihnen. Das macht die Tage noch länger. Und wegen der unbesetzten Stelle schließt das Zentrum auch noch früher als sonst. Statt bis 21 Uhr können die Jugendlichen jetzt an zwei Nachmittagen nur noch bis 17 Uhr bleiben. „In den Ferien haben wir früher Ausflüge an die Ostsee gemacht, jetzt ist nichts mehr“, klagt einer der Jungen. Und das, „wo die in Kirchsteinbek nach Italien gefahren sind. Wir wären ja schon froh, wenn wir mal aus Hamburg rauskämen.“
Die Jugendlichen sehen das so: „Im Knast hast du bessere Chancen, da kannst du was lernen, und da gibt es einen Fitnessraum. Hier gibt es nichts.“ Sonnenland ist traurig, sagen sie. „Sonnenland ist Knast.“ Aber zum Stadtteilprojekt kommen sie trotz der mageren Ausstattung immer wieder.
Wenn sie draußen in den Straßen rumhängen, „da kommen wir nur auf dumme Gedanken“. Autos klauen und so. Daran sind die Politiker schuld, „die sind dafür verantwortlich, wenn hier immer mehr Scheiße passiert“. Sie sagen: „Wir wollen nicht kriminell sein, aber wir wollen den Spaß haben, den die Politiker auch haben.“ Sie wollen mal Bowling spielen gehen und eine richtige Musikanlage haben.
Wegen der Kriminalität schicken Polizei und Behörden ab und an mal jemanden vorbei. Die Jugendlichen merken sich genau, was ihnen bei solchen Treffen versprochen wird. „Neulich hat uns eine Polizistin eine Werkstatt versprochen“, sagt der einzige der Clique, der einen Führerschein und einen Job als Lieferfahrer hat. „Das wäre super, dann könnten wir an meinem Wagen rumschrauben, und vielleicht würden wir dann sogar Lust auf eine Ausbildung als KFZ-Mechaniker kriegen.“ Doch es passiert nichts.
Mit den Betreuern reden sie „auch über die Zukunft, über Schule und Arbeit.“. Einer von ihnen will jetzt den Test vom Arbeitsamt machen, „da finden die raus, was ich kann“. Er wartet seit Wochen auf den Termin. Doch es passiert nichts. Am Montagabend will der Jugendhilfeausschuss über die Wiederbesetzung der Stelle entscheiden.
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