: Die Herzenskräfte stärken
In Potsdam hat eine Waldorfschule eröffnet, die neue Wege gehen will. Unsere Autorin,eine ehemalige Waldorfschülerin, hat sie besucht und erinnert sich an eigene Erfahrungen
von MONA HOPE
Ich weiß noch, wie ich zum letzten Mal die schwere Glastür am handgeschnitzten Griff zum Schulhof aufschob und Richtung Ausgang lief, vorbei an der Glasvitrine, die über Vorträge und Feiern der „Freien Waldorfschule“ informierte. Ich würde nicht mehr mitfeiern, wusste ich – ich war gerade geflogen. Offizieller Grund: meine innere Einstellung zur Schule. Dreizehn Jahre später möchte ich mir zum ersten Mal wieder anthroposophisches Gemäuer von innen ansehen. Denn in Potsdam, so heißt es, habe eine Waldorfschule den Neuanfang gewagt.
Waldstadt, eine unschicke Neubausiedlung, macht Hoffnung. Innovative Waldorflehrer waren von engagierten Eltern gesucht und eingestellt worden. Andere Lehrkräfte waren gegangen, als alte Regeln zugunsten neuer Methoden über Bord geworfen wurden. Das habe ich bisher gehört. Dann schimmert rosa Farbe durchs Gebüsch. Beruhigenderweise auf einen Plattenbau gepinselt, denn Erzkonservative schreiten nur durch organisch-dynamische Bauwerke, wie jenem, das mir zum Verhängnis wurde.
Es war eine Bilderbuch-Waldorfschule. Ein rosafarbener Klotz mit vielen schiefen Winkeln. Im Foyer Marmorboden, im Hort unsichtbare Zwerge. Ich war glücklich, unter den Auserwählten zu sein. Wir schreinerten, strickten oder musizierten, und auch Eurythmie, der Buchstaben- und Notentanz, gehörte zu jenen Fächern, die unsere von der „Staatsschule“ unterschied. „Freiheitliches Denken“, „Entfalten kreativer Kräfte“ und „Lernen ohne Druck“ waren die Zauberworte, die versprachen, aus uns den besseren Menschen zu machen. Wie das geht, wenn das gezeichnete Reagenzglas im Klassenheft wichtiger ist als der ohnehin von der Tafel abgeschriebene Text, oder warum alle waldorfgefertigten Kunstobjekte irgendwie gleich aussehen, darüber dachte ich nicht nach. Auch das mäßige Zeugnis, das mich als Person genauso beurteilte wie meine Leistungen, ärgerte mich nur, anzweifeln wollte ich es nicht. Harmlose Fragen, etwa nach dem Sinn von Fenstern aus Mahagoniholz, waren revolutionär genug – das Lehrerkollegium runzelte kollektiv die Stirn, denn nach den Theorien des Schulgründers Rudolf Steiner sind Schüler erst mit der „Ichgeburt“ in der 13. Klasse reif, selbst urteilen zu können. Einen verkaterten Schulbesuch und ziemlich viele pubertär-trotzige Unmutsbekundungen weiter ließ man mich dann ohne Schulabschluss aus der heilen Welt plumpsen.
Ob die Lehrer wussten, dass ich mit dem vom Lehrplan verursachten Wissensdefizit als Pubertätsgeplagte an keiner staatlichen Schule Fuß fassen würde, weiß ich nicht. Unanständige Lehrer gibt es allerdings überall. Fragwürdiger ist das Schulsystem, vom Lehrplan bis zur Personalstruktur, das solche Entgleisungen erst zulässt.
In der Potsdamer Schule ist trotz Ferienzeit viel los. Der Hausmeister schleppt mit ein paar LehrerInnen Möbel die Treppe hoch – die Klassenzimmer werden zum Schulanfang neu verteilt. Als ich gerade die getöpferten Raumnummern bestaune, schießt Tilo Koch um die Ecke. Der promovierte Physiker und Fachlehrer für Mathematik, Physik, Chemie, Geografie, Astronomie und Technologie setze waldorfpädagogisch neue Maßstäbe, hatte ich gehört. Und nicht nur das. Seine Turnschuhe werden heute gerne von goldkettchenbehangenen Rappern getragen, und die kleine um den Gürtel geschnallte Handytasche lässt auf das neueste Modell schließen. Doch der Rest, von der Frisur bis zur Brille, ist eindeutig waldi.
Seit einem Jahr ist er in Potsdam. An der alten Schule war er mit seinen Ideen zur Projektarbeit gegen heilige Wände gerannt. Dadurch erfolge ein zu frühes Herbeiführen der Urteilsreife, hielten die Ultras dagegen. Steckt nicht vielmehr eine Angst vor Machtverlust dahinter? Koch wiegt den Kopf. „Sinnigerweise waren es die Lehrer, die grundsätzlich nur im Frontalunterricht gearbeitet haben.“
In Potsdam kam seine Reformlust an. Sieben Projektstunden haben die Schüler wöchentlich, gründen eine Stadtteilzeitung, nähen Vorhänge für die Schule oder realisieren einen Basketballplatz vom Vermessen bis zum Auftreiben von Sponsoren. „Wir wollen damit die Vielfältigkeit der Dinge erkennbar machen.“ Wer wo mitmacht, das bestimmen die Schüler selbst. Wir sitzen im Musikraum, am Fenster stapeln sich Djembe-Trommeln. Koch erzählt von klassenübergreifendem Unterricht, von Teamteaching. International seien sie – Lehrer aus Argentinien, Ungarn, aus Schottland und aus Burundi unterrichten an der Schule. Man probiere viel Neues aus. Wie etwa eine effizientere Arbeitsteilung. Statt des sonst allmächtigen Lehrerkollegiums, das nur einvernehmliche Lösungen kennt und deshalb nicht selten handlungsunfähig ist, gibt es kleine Arbeitsgruppen. Auch die Eltern, sonst mit Basteln, Backen und Blechen beschäftigt, haben hier etwas zu melden, und die Schülermitbestimmung reicht bis in die Konferenzen.
Doch was ist mit der pädagogischen Arbeit selbst? Wann genau entfaltet sich die Kreativität, wenn beim Malen jeder Schritt vom Lehrer vorgegeben wird? Koch kennt das Problem. „Wenn ich diese Kreuzstichmäppchen sehe, die seit Schülergenerationen gleich aussehen – Lehrer, die so nach überlieferten Methoden arbeiten, sind für mich auf der falschen Seite“, und meint wohl die Didaktik der staatlichen Schulen, denn „das ist doch genauso materiell gedacht“. Und: „Ich sehe da tatsächlich die Gefahr der Willenslähmung, denn dieses stereotype Arbeiten fördert das.“
So reformfreudig man hier auch ist, die Steiner’sche Lehre klingt nicht nur im Sprachgebrauch durch, auch an dem bald hundert Jahre alten Lehrplan bleibt vieles unangetastet. In den unteren Klassen werden Erzählungen vom Alten Testament über die germanischen und ägyptischen Mythologien bis zur Neuzeit nicht um des Wissens willen durchgenommen, sondern weil die Entwicklung des Kindes nach Steiner analog zur Menschheitsentwicklung verläuft. Jeden Morgen erbitten sich die Schüler unisono vom „Gottesgeist“ im „Weltenraum“ „Kraft und Segen zum Lernen und zur Arbeit“, und in Eurythmie werden „Seelengesten“ gelehrt.
Über Spezialeinlagen wie diese mag man sich streiten, allerdings dürften sie zu dem Wissensrückstand beitragen, der erst in den letzten zwei Klassen wieder aufgeholt wird. Wer auf eine staatliche Schule wechseln will, muss deshalb oft Klassen wiederholen. Für den sonst so agilen Koch ist das kein Grund, umzudenken. „Die Freiheit im Lehrplan ist mir wichtiger.“ Immerhin, wer früher gehen will, wird in einem Spezialkurs für den Realschulabschluss fit gemacht.
Wir gehen in Richtung Ausgang. Die Tür zum Sekretariat steht offen, die Möbelpacker von vorhin besprechen Details zum Schulanfang. Wie lange sie hier arbeiten werden, ist unklar, denn finanziell steht die Schule auf wackligen Beinen. Doch Koch ist zuversichtlich und auch stolz auf die Leistungen der Kollegen, denn die sind nicht nur als Lehrkräfte gefordert, sondern arbeiten auch in allen anderen Bereichen, von der Renovierung bis zum Sponsoring, mit. Die Waldorfschule funktioniere wie ein modernes Unternehmen, ohne hierarchische Strukturen und mit effizienter Arbeitsteilung. Das Geschäftsmodell könne auch außerhalb anthroposophischer Kreise Nachahmer finden, meint Koch. „Irgendwie sind wir doch alle Global Players“, grinst er, um im gleichen Atemzug hinzuzufügen, dass nicht nur ein guter Geschäftsplan wichtig sei für den Erfolg. „Auch auf die Herzenskräfte kommt es an.“
Waldorfschule Potsdam, Erich-Weinert-Straße 51,14487 Potsdam, www.waldorfschule-potsdam.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen