piwik no script img

Schwule Anthroposophen

Lange wurde über das Thema Homosexualität in der Anthroposophie gar nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand geredet. Das hat sich geändert: Im Arbeitskreis Bi…sophie haben sich Schwule, Lesben und Bisexuelle zusammengeschlossen

von RICHARD ROMAN

Während hunderttausende von Schwulen und Lesben alljährlich lautstark beim Christopher-Street-Day auftreten, um für ihre Rechte zu kämpfen, sich der Regierende Bürgermeister in Berlin mit seinem „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“ in die Schlagzeilen katapultiert hat, fand das Thema Homosexualität in der Anthroposophie höchstens am Rande statt.

Eine Phase der Politisierung der Homosexualität hat die Lehre Steiners nie erlebt. Sie nahm nicht Teil am Kampf gegen den Paragrafen 175, der die gleichgeschlechtliche Liebe jahrzehntelang unter Strafe gestellt hat, sie entdeckte nie die Chancen, die sich aus der Auflösung konventioneller Beziehungsmuster ergeben. Die befreiende Vielfalt von Lebensformen war ihr ein Gräuel oder wurde milde mit dem Mantel des Schweigens zugedeckt.

1987 schrieb Christoph Kranich: „Wer in die anthroposophische Welt erst als Erwachsener hineinkommt und vorher seine gleichgeschlechtliche Orientierung entdeckt hat, empfindet meist die Stimmung, die ihm entgegengebracht wird, als einen Rückschritt in die 50er-Jahre: Tabu, Vorurteil, Wegschauen oder gar Ablehnung und ‚Heilungs‘- Versuche.“

Dieser Befund gilt im Wesentlichen auch heute noch. Kranich ist Gründer von „Bi…sophie“, einer bundesweiten Arbeitsgruppe, die sich mit Anthroposophie und Homosexualität auseinander setzt. Während in den Anfangsjahren in diesem Kreis nur Männer Mitglied waren, änderten sich ab 1991 die Verhältnisse. Die neue Arbeitsgruppe Bi-/Homosexualität & Anthroposophie steht auch Frauen offen.

Im Jahr 2000 brachte die Gruppe als „Krönung langjähriger Arbeit“, so eine Selbsteinschätzung, das Buch „Liebe Leben“ heraus. Laut Kranich wurde es öffentlich kaum wahrgenommen und ist damit recht einflusslos geblieben. Trotzdem ist das Buch für die anthroposophische Gemeinschaft ein Schritt nach vorne, mindestens in der Theorie, die jetzt praktische Folgen haben muss.

Die Leistung der Bi…sophen ist um so größer einzuschätzen, bedenkt man das anthroposophische Fundament, auf dem sie aufbauen mussten. Steiner hat sich nie zur Homosexualität geäußert. Die Versuche anderer Anthroposophen fasst Kranich als „Defizittheorien“ zusammen. Solange die anthroposophische Theorie nicht „von innen“ käme, könne sie nicht emanzipativ werden, so Kranich.

Ein Schulleiter, der nicht namentlich genannt werden möchte, bestätigt diese Analyse. Dass in seiner Schule das Thema Homosexualität praktisch nicht vorkomme, sei den Eltern geschuldet, die einen solchen Stoff als anstößig empfinden würden. Der Leiter vermutet, dass manche Eltern glaubten, alleine das Unterrichtsgespräch über Homosexualität könne Auswirkungen auf die sexuelle Disposition der Schüler haben. Kurz: Reden über Homoexualität führt zu Homosexualität. Gelobt sei der staatliche Unterricht, der jedes Thema so weit veräußerlicht, dass es mit der Gedankenwelt der Schüler nichts zu tun hat.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen