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„Die Toten sieht man nicht“

Zwischen Mexiko und USA verläuft die Grenze zwischen Erster und Dritter Welt. Die Wissenschaftler Manuel Valenzuela und Norma Iglesias über Trennendes, Verbindendes und staatliche Ignoranz

Interview EDITH KRESTA

taz: Auf der einen Seite Kalifornien als reichster Stadt der USA, auf der anderen Seite Baja California, ein armer Staat Mexikos. Wie wirkt sich das aus?

Manuel Valenzuela: Mexiko wird von den USA als Grenzland zwischen der Ersten und der Dritten Welt gesehen. Mexiko spielt eine zentrale Rolle bei der Umsetzung des Freihandeslabkommens mit den USA und Kanada [seit 1994; d. Red.], und es soll vor allem die Grenze zwischen Mexiko und dem Rest Lateinamerikas absichern, damit sie für Migranten undurchlässig wird. Die US-Politik braucht Mexiko als strategischen Partner zur Kontrolle des Marktes nach Süden.

Norma Iglesias: Sie wollen den Markt, aber nicht die Menschen.

Von den nordamerikanischen Schriftstellern wird das Leben hinter der Grenze oft als Sodom mit Prostitution und Verbrechen dargestellt. Wie sehen Sie es?

Manuel Valenzuela: Unglücklicherweise hat sich immer wieder eine klischeehafte Sicht auf die Grenze durchgesetzt. Die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten ist ein komplexes Gebilde. Die Wahrnehmung hat eine historische Dimension mit sehr schmerzlichen Zügen. Ein großer Teil der amerikanischen Grenzstaaten gehörte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Mexiko. Durch mehrere Kriege zwischen den expandierenden USA und Mexiko verlor Mexiko 1848 mehr als die Hälfte seines Territoriums. 120.000 Mexikaner, die sich geschlagen fühlten, sind im Norden geblieben. So kam es zu zwei wichtigen Prozessen: Die Bewohner südlich der Grenze waren sowohl ökonomisch als auch familiär mit den Bewohnern jenseits der Grenze verbunden. Durch die Grenzziehung war Baja California komplett von Mexiko abgeschnitten. Und es wurde nun schwierig, diese Beziehungen aufrechtzuerhalten.

Die Grenze als nationale Kränkung?

Norma Iglesias: Ja. Aber es herrscht auch auf beiden Seiten der Grenze ein reger interkultureller Austausch.

Manuel Valenzuela: Und gleichzeitig gibt es Prozesse kulturellen Widerstands und ein Festhalten an der eigenen Identität der Bevölkerung auf mexikanischer Seite. Sie achtet besonders darauf, dass sie nicht amerikanisiert wird, sie will ihre Identität erhalten. Dieses Bewusstsein ist in der Grenzregion viel stärker als beispielsweise bei der Mittelschicht im Zentrum des Landes.

Norma Iglesias: Die Grenzsituation bestimmt den Alltag, die Kunst und die Litertatur. Man kann die Augen nicht davor verschließen.

Manuel Valenzuela: Auch im Film und der Literatur der Chicanos [der Bewohner des Grenzgebiets mexikanischer Herkunft], die sich mit dieser Problematik auseinander setzen, sieht man die Suche nach der eigenen kulturellen Herkunft und nach Perspektiven für die Zukunft.

Wie sieht der kulturelle Widerstand gegen den Einfluss der US-Gesellschaft konkret aus?

Manuel Valenzuela: Beiderseits der Grenze hat sich eine Jugendkultur entwickelt, die mexikanische Symbole benutzt, um sich gegen die Dominaz der US-amerikanischen Kultur zu wehren. Präkolumbianische Motive, Motive aus der katholischen Religon und der mexikanischen Revolution. All dies wird ausgedrückt in Graffiti, Tattoos und Bildern. Das ist eine Bewegung mit internationalen Wurzeln.

Norma Iglesias: Es gibt aber auch die Grenze der Mittelklasse, die mit Pass hin- und herreist, in Mexiko den billigeren Zahnarzt, die günstigere plastische Chirurgie und auf amerikanischer Seite die schickeren Schuhe findet. Ohne Probleme. Für sie ist die Grenze kein gewaltbesetzer, sondern ein sehr attraktiver Raum. Tijuana ist der Ort, wo mehr Krankenhäuser und ärztliche Versorgung als im Rest des Landes existieren. Der Mittelstand kommt gern hierher. Auch für uns als Wissenschaftler ist es ein sehr interessanter Ort für die Forschung mit einer hervorragenden Infrastruktur. Die Situation an der Grenze ist eine sehr dynamische.

Wird die Situation an der Grenze auch auf amerikanischer Seite als dynamisch angesehen?

Norma Iglesias: Die Grenze wird ganz unterschiedlich erlebt. Das ist Resultat einer vollkommen asymmetrischen Situation. Auf der mexikanischen Seite denkt man, dass man ohne die ökonomischen Verbindungen zu den USA nicht bestehen kann, während sich San Diego als unabhängig empfindet. Aber das ist eine Lüge. Es gibt einen Videofilm mit dem Titel „Ein Tag in Kalifornien ohne Mexikaner“. Das Video zeigt, dass Kalifornien ohne Mexikaner paralysiert und seine Wirtschaft schwer beeinträchtigt wäre. Das Land Kalifornien kann auf die mexikanischen Arbeitskräfte nicht verzichten.

Manuel Valenzuela: Einerseits wird die ökonomische Bedeutung der Grenze für Amerika nicht gesehen und negiert, zum anderen wird die Grenze als Bedrohung empfunden. Man fürchtet die Migranten und spricht von Angst erregenden Fluten und Strömen.

Norma Iglesias: Dabei wird es immer schwieriger, die Grenze zu überqueren. Es gibt eine Theorie, die von der migration of the fittest spricht. Der Gesunde, der Fitte, der Starke, der gut Gebildete schafft möglicherweise die Migration, denn die Zuwanderungspolitik der Vereinigten Staaten wird immer härter.

Ist Mexiko für die Verinigten Staaten eine günstige Gelegenheit?

Norma Iglesias: Ja. Zum einen kommen billige Arbeitskräfte, es ist ein Ort für Investitionen, ein guter Markt. Denn die Mexikaner sind gute Konsumten. Über die Grenze können das Geld und die Kultur ungehindert hin- und herfließen, aber nicht die Menschen. Die Migration ist nicht einmal Gegenstand aktueller Verträge.

Manuel Valenzuela: Die jetzige Regierung hat sprühenden Optimismus gezeigt, um bessere Bedingungen auszuhandeln, aber seit dem 11. September hat der Schutz des eigenen Landes für die USA nun absolute Priorität. Die Grenzen werden wieder dicht.

Mexikaner sind keine Islamisten. Wie wird argumentiert?

Norma Iglesias: Ein Argument ist, dass die mexikanische Regierung sehr korrupt sei und deshalb für Schmiergelder offen sei und die Leute einreisen lasse. Wir wissen, dass es nicht stimmt. Die Terroristen waren ja bereits in den USA. Es dient als Argument, um die Migration einzudämmen.

Manuel Valenzuela: Und zur Militarisierung der Grenze. So werden die im Golfkrieg als Landeplätze benutzen Plafonds nun zur Sicherung der Grenze verwendet. Das Argument vom Terrorismus dient der Ideologie der Abschottung, weil die Bedrohung durch den Terrorismus nicht so einfach zu widerlegen ist.

Norma Iglesias: Der 11. September hat den Diskurs legitimiert, der den Kampf der Arbeiter für ihre Recht schwächt. Der Diskurs der Sicherheit erlaubt es, die Menschenrechte zu missachten.

Sicherheit für Amerika?

Manuel Valenzueal: Ja, denn die Toten an der Grenze sieht man nicht. Sie sind unsichtbar. Diese Toten füllen nicht die Medienberichte, wenn sie Opfer des harten Klimas, Opfer von Anschlägen oder Opfer der Polizei werden. Seit 1994 sind mehr als 2.000 Illegale an der Grenze umgekommen. Zum Vergleich: An der Berliner Mauer waren es in den 28 Jahren 700 Tote.

Eine Grenze von 3.110 Kilometern ist natürlich eine leicht einzubrechende Flanke, auf die man sämtliche Bedrohungsszenarien projizieren kann. Welche Fragen müssten von den USA und Mexiko dringendst besprochen werden?

Manuel Valenzuela: Es sind in erster Linie die Menschenrechte, die von der Migrationspolizei permanent verletzt werden. Es wäre eine dringende Angelegenheit beider Staaten, dort einzugreifen. Die zweite Notwendigkeit wäre, die Stereotype zu entmystifizieren. Zu zeigen, dass es falsch ist, dass Migranten Arbeitsplätze wegnehmen und eine Bedrohung des einheimischen Arbeitsmarkts sind. Dass es falsch ist, dass sie für die wirtschaftliche Krise verantwortlich sind, dass sie am Drogenschmuggel beteiligt sind. Die Drogen passieren die Grenze nicht in den Taschen der Migranten, sondern in Flugzeugen. Es ist wichtig, dies klarzustellen, um die Rechte der Migranten zu stärken und sie nicht zu kriminalisieren.

Norma Iglesias: Wenn Mexiko sich wieder einmal aufschwingt zu Verhandlungen, um die Rechte mexikanischer Arbeiter in den USA zu verbessern, argumentieren die USA damit, dies sei eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Dabei sind Migrationsprobleme längst globale Probleme.

Manuel Valenzuela: Es ist notwendig, über die strukturellen Bedingungen der wachsenden Armut in Lateinamerika nachzudenken. In Lateinamerika leben 210 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, in Mexiko 70 Prozent der Bevölkerung.

Und der reiche Norden bedeutet für sie Erlösung?

Manuel Valenzuela: Zumindest Hoffnung. Die USA stehen vor einer großen Herausforderung. Zum einen fürchten sie die wachsende Zahl der Latinos – man spricht von 30 Millionen Spanischsprechenden im Land, die auf fünf amerikanische Staaten konzentriert sind, insbesondere Kalifornien und dort Los Angeles. In Los Angeles in den Grundschulen gibt es in der Mehrheit Kinder hispanischer Herkunft. Die Spanisch sprechenden Migrantengemeinden wachsen fünfmal so schnell wie die Angloamerikaner. Die Amerikaner sind erschreckt von dieser wachsenden Zahl der größten Minderheit im Land. Gleichzeitig brauchen sie aber auch die dynamische, junge Bevölkerung als billige Arbeitskräfte. Dies ist der große Widerspruch der Debatte.

Und was bedeutet die Migration für Mexiko?

Norma Iglesias: Die Migration ist ein Entlastungsventil für Mexiko, denn die Devisen, die durch die Migration ins Land kommen, stehen an zweiter Stelle der Außenhandelsbilanz. Manchmal scheint dieser Posten größer als der durch das Öl erwirtschaftete. Es ist ein wichtiger Faktor für die einheimische Wirtschaft.

Manuel Valenzuela: Auch in der mexikanischen Regierung ist der Diskurs sehr widersprüchlich. Einerseits hat die mexikanische Regierung die Migration immer als Ventil akzeptiert. Andererseits steht sie nun vor den sozialen Kosten. Einerseits kann man nicht die Bedingungen schaffen, dass die Menschen hier bleiben, zugleich aber wird nicht diskutiert, wie man die Migranten schützen könnte vor Ausbeutung oder dem Tod an der Grenze.

Mexiko und USA – eine ungeklärte Beziehung?

Manuel Valenzuela: Ja, dabei geht die Verbindung sogar so weit, dass die Parteien Mexikos über die Grenze gehen und dort Wahlkampf machen. Wir sind in einem Prozess der Transnationalisierung, der nach einer neuen Definition von Staatzugehörigkeit schreit, der nach einer neuen Definition von staatlicher Souveränität verlangt. Aber wir sind in einem sehr widersprüchlichen Prozess, weil die mexikanische Regierung nicht einmal in der Lage ist, günstige Bedingungen für die mexikanischen Arbeitskräfte auszuhandeln oder wenigstens die Garantie, dass sie beim Überqueren der Grenze nicht ihr Leben verlieren.

Was wären Ihre Forderungen?

Norma Iglesias: Es muss eine Zusammenarbeit zwischen Mexiko und den USA geben, um der Situation in irgendeiner Form gerecht zu werden. Aber die Vereinigte Staaten zeigen keinerlei Interesse daran, darüber zu verhandeln. Man hat ein paar kleiner Verbesserungen wie medizinische Versorgung für Illegale angeboten, aber die lösen das grundsätzliche Problem noch lange nicht.

Manuel Valenzuela: Die Notwendigkeit, zusammenzuarbeiten, zeigt sich auch im Umweltschutz. Die Abwässer von Tijuana fließen ungeklärt ins amerikanische Meer. Sie werden damit auch zum Problem von San Diego. Andererseits werden Abfälle aus den USA ungeprüft über die Grenze nach Mexiko gebracht. Gemeinsame Lösungen sind auch dort notwendig. Eine Sicherung der Grenze durch Mauern bringt nichts. Man braucht binationale Pläne.

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