: Kein Ort von Bedeutung
Glashütte ist ein Provinznest irgendwo im Erzgebirge. Das kann spannend sein
Es hätte alles so schön sein können. Da geben sich in einem kleinen Ort im Osterzgebirge monatelang Edelfedern und andere Autoren die Klinke in die Hand, stehen hinterm Tresen der Kleinstadtkneipe und besuchen Schuldirektor und Bürgermeister, um diesen Ort namens Glashütte in einem Magazin groß rauskommen zu lassen. Und dann das: Glashütte wird einfach berühmt, ganz von allein, nicht durch das Heft, sondern durch eine Flut, die den halben Ort wegspült.
Das Heft über Glashütte, das der Berliner Kommunikationsverein auf die Beine gestellt hat, gibt es jetzt trotzdem. Ein gelber Aufkleber auf dem Cover mit dem Hinweis „Vor der Flut“ versucht zu retten, was zu retten ist. Und das ist eine Menge. Die im Stil von Mare und anderen Feuilletonmagazinen arrangierten Porträts, Fotos und Protokolle spiegeln das stinknormale Leben auf faszinierende Art.
So hat der Hamburger Autor Andreas Greve „Ferien an der Fritteuse“ gemacht, hat seinen Hamburger Arbeitsplatz vertauscht gegen den Tresen im Bistro H4. Serviert Hackspieß und lernt die Vornamen der Gäste auswendig. „Wenn das H4 in der Hauptstraße 4 geschlossen hat, bekommt die Ruhe im Tal etwas, was Beklemmungen verursacht“, notiert er eingangs. Später geht es ihm wie vielen weit gereisten Zufallsbesuchern. Die Faszination des Gewöhnlichen nimmt ihren Lauf. So schreibt etwa die Schriftstellerin und Ex-TV-Moderatorin Elke Buschheuer in ihrem bewegenden Protokoll über die Entdeckung Glashüttes: „Glashütte ist die größte Tsetsefliege der Welt. Seit Jahren war ich nicht so müde.“ Das tut gut, wenn man rastlos zwischen New York und Berlin pendelt. Endlich mal ausschlafen in einer Zweiraumwohnung mit Innenklo.
Richtig spannend wird das Leben erst im Verein. Vor allem wenn sich Männer als Scheichs verkleiden und ein Garten „Karthago des Nordens“ heißt. Auch das hat Glashütte zu bieten, und am Ende fragt man sich nicht mehr, weshalb ein 145 Seiten dickes Journal einen popeligen Ort seziert, sondern warum es nicht noch weitergeht. Was macht eigentlich die Schmidts am Ort, und warum wird es in Glashütte schneller dunkel als anderswo?
CHRISTINE BERGER
„Orte, an die niemand reisen mag“, Heft 1, Glashütte, 7,50 €, erhältlich im gut sortierten Zeitschriftenhandel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen