vorlauf
: Er war ein Kind

„Mein Bruder ist im Paradies“ (So., 21.15 Uhr, 3sat)

Die Bilder scheinen belanglos, alltäglich. Ein schmuckloser Betonbau im öden Flüchtlingslager von Rafah im Gasastreifen: spärliche Möblierung, kahle Wände, karge Mahlzeiten, palästinensisches Leben unter israelischer Besatzung. Das Besondere: Erzählt wird dieses Leben vom 13-jährigen Jasser, dessen ein Jahr älterer Bruder Karam von israelischen Soldaten erschossen wurde, als er einen Militärposten mit Steinen attackierte. „Mein Bruder ist ein Held, ein Märtyrer“, sagt Jasser mit aufrichtiger Bewunderung. Der öffentliche Ruhm und das heroische Vorbild des Bruders aber können über den tiefen Verlust nicht hinwegtäuschen: „Ich bin oft allein. Wir waren immer und überall zusammen“, sagt Jasser.

Jasser ist ein lebenslustiger, freundlicher Junge. Er hilft seiner Mutter in der Küche, auch wenn seine Freunde ihn deshalb als „Mädchen“ verschreien. Er bastelt Drachen mit seinem Cousin. Und er würde so gerne ans Meer gehen, das nur wenige hundert Meter entfernt ist – doch unerreichbar wegen einer israelischen Militärsperre. Er füttert die Tauben mit seinem arbeitslosen Vater, der mit dem Verkauf ein bescheidenes Verdienst sichert. Und er wird immer wieder an seinen Bruder erinnert, dessen Bild im Haus, in jeder Etage und in jedem Zimmer hängt.

„Ich denke jetzt viel an ihn“, sagt Jasser. „Er war ein Kind. Was kann er den Israelis schon tun? Was können Steine gegen Panzer ausrichten?“

Karam hat ein von Kinderhand bemaltes Blatt mit Koransprüchen hinterlassen, einen Abschiedsbrief, den er einem Freund übergab. Seinen angekündigten Tod hatte ihm weder die Familie noch sein Bruder glauben wollen: „Du wirst schon sehen, warte ab“, sind die letzten Worte, die Karam mit Jasser in der Nacht vor dem Tod wechselt.

Jasser trägt heute manchmal die Kleider seines Bruders. Und er bewahrt sorgfältig alles auf, was seinem Bruder gehörte oder an ihn erinnert. Die Rolle des glorifizierten Märtyrers aber übernimmt er nicht. „Ich kann nicht sein wie er. Klar, ich kann auch Soldat werden“, sagt Jasser. „Aber mein größter Wunsch ist es, Arzt zu werden. Ich möchte unter Menschen sein und ihnen helfen.“ GEORG BALTISSEN