: Real life exists
Nicht Freakshow, nicht trash, nicht anti. Sondern Daniel. Der ungewöhnliche Singer/Songwriter Daniel Johnston (USA) spielte im Jungen Theater vor Mama Menschheit, der guten Mutter
Daniel, Du bist süß. Du stehst auf der Bühne wie bestellt und nicht abgeholt, mit gebeugtem Rücken, verzagt und dennoch tief im Innersten wild entschlossen, Musik zu machen für diese ganzen Leute, die alle wegen Dir gekommen sind (es ist ein wenig verrückt, ja? Kannst Du es wirklich fassen? Erkläre es mir. Du würdest sagen: „Sie finden mich gut“, und Du hättest recht). Du bist eine Marke, Du hast es geschafft, auch wenn die Worte „The Big Thing“ Dir noch immer Angst einjagen.
Du hast Angst, und Du zeigst sie, und das ist ungeheuerlich. Wir können es nicht verstehen. Wir lechzen danach, so zu sein wie Du, aber wir bringen den Mut dazu nicht auf.
Wir wollen uns alle lächerlich machen, wir wollen weinen und zittern und toben und schreien und dennoch aufgefangen werden von einem warmen Wohlwollen, von anderen Menschen, die ebenfalls Gefühle haben und ebenfalls unsicher sind, von Mama Menschheit, der guten Mutter.
Wir dürsten nach Aufrichtigkeit, nach einem unironischen Wort, das uns gilt. Uns. In dieser Geisterbahn, in diesem Spiegelkabinett der monochromen Oberflächen, in dem sich endlos nichtssagende Fratzen spiegeln, geben wir vor, nach unserem eigenen Gesicht zu suchen, aber wenn wir es für einen Augenblick erkennen – selten, im Vorübergehen, aus den Augenwinkeln – schrecken wir davor zurück, als hätten wir den Teufel gesehen. Wir verweigern uns das, wonach wir uns am meisten sehnen, das, was einfach und nah ist. Das ist unsere Methode, uns klein zu halten und in verzweifelter, stiller Isolation zu verharren, die wir selbst gelernt, gemacht und gewählt haben.
Wir können uns nicht sein lassen. Wir zerren an uns herum, wir sind uns selbst nicht gut genug. Solange sich noch ein authentisches Gefühl regt, sind wir angreifbar. Wir wollen nicht angreifbar sein. Wir wurden schon zu oft verletzt. Damit das nicht mehr geschieht, verletzen wir uns prophylaktisch selbst. Hier, sagen wir, ich bin schon tot. Es macht keinen Sinn, auf einen Toten einzuschlagen.
Daniel, ich habe es zunächst nicht verstanden. Ich hielt alles für eine Masche. Deine Schüchternheit, deine Frisur, deine verstimmte Gitarre. Erst als Du die Zeile „Where are we goin to“ gesungen hast, habe ich es verstanden. Plötzlich wurde für mich die Sehnsucht greifbar, die das Publikum in Deine Richtung aussendete. Wie immer man sich innerlich verhält, wie sehr man auch versucht, Deiner Ansprache mit den vertracktesten ironischen Winkelzügen zu entgehen, man hat keine Chance. Nicht die Spur einer Chance. Du berührst jeden. Im warmen Licht Deiner Aufrichtigkeit verdampft die Distanz. Die Verteidigung, die ständige Verteidigung, bleibt schon in ihren Anfängen stecken. Man streckt die Waffen, und das tut gut.
Du bist nicht Freakshow, du bist nicht trash, Du bist nicht anti, Du bist Daniel. Real life exists, und Du bist der lebende Beweis dafür. Du führst es uns unmissverständlich vor Augen, so deutlich, dass keine Zweifel Bestand haben können. Das ist das Geheimnis Deines Erfolges, und das ist, wenn man darüber nachdenkt, sehr traurig. Wir sind so resistent gegen die Wahrnehmung von Authentizität geworden, dass nur noch die Naivitätskeule eines psychisch Retardierten wirksam ist. True love will find you in the end, but how can it find you if you don‘t show yourself and step out into the light. Tim Ingold
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