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Shopping bis zur Abrissbirne

Nicht die Stadtluft macht frei, sondern vor allem ein selbstbestimmtes Leben: Die Ausstellung „Glück – Stadt – Raum“ in der Berliner Akademie der Künste dokumentiert das gelungene Leben in der Stadt

Ein gesundes Misstrauen gegenüber allzu optimistischen Stadtplanern

von ANSGAR WARNER

Bei einer aktuellen Umfrage des Emnid-Instituts wollten viele Großstädter von ihrer urbanen Umgebung am liebsten gar nichts mehr wissen. Jeder vierte gab an, in Zukunft auf dem Land leben zu wollen. Die Befragten kritisierten vor allen Dingen die Beeinträchtigung der Lebensqualität durch zu viel Autoverkehr und zu wenig Grün. Die Ausstellung „Glück – Stadt –Raum“ in der Berliner Akademie der Künste geht dennoch davon aus, dass spätestens in den letzten 200 Jahren das Anwachsen der Städte mit dem geballten Glücksversprechen an die zukünftigen Bewohner einherging. Anhand von 33 städtebaulichen Phänomenen zwischen Atlantikküste und Ural begeben sich die Ausstellungsmacher auf die Suche nach der Formel des guten Lebens in der Stadt.

Eröffnet wird die Glückssuche mit „urbanen Ritualen“. Unzählige Schafe ziehen auf überlebensgroßen Bildern durch die Innenstadt von Madrid. Spanische Ökos haben diesen mittelalterlichen Brauch in den Neunzigerjahren wiederbelebt. Das kann die katholische Kirche mit ihren Schäfchen natürlich auch: Zehntausende Gläubige prozessieren gleich nebenan durch das völlig zerstörte Köln der frühen Nachkriegszeit, geordnet nach Rang und Namen – Kardinäle, Bischöfe und ganz zum Schluss die Schützenvereine. Nachgezeichnet wird auch eine Via Dolorosa der Gegenwart: Auf einem Stadtplan kann der Betrachter Lady Dis fatale Autofahrt durch das nächtliche Paris bis zum finalen Crash im Verkehrstunnel nachvollziehen, während sich die Unglücksstätte zum quasireligiösen Wallfahrtsort entwickelt hat.

Noch anschaulicher wird die verschlungene Sinnsuche der Moderne durch das merkwürdige Schicksal der Moskauer Erlöserkirche. Erbaut unter den Zaren, unter Josef Stalin abgerissen, um Platz für ein Lenindenkmal zu schaffen, zum Schwimmbad umgebaut unter Chruschtschow, wiederauferstanden von den Toten unter Boris Jelzin. Über all dem thront eine Satellitenaufnahme des nächtlichen Europas. Deutlich zeichnen sich große und kleine Leuchtpunkte in der blauschwarzen Dunkelheit ab. Berlin ist nicht der hellste von ihnen, aber immerhin. Ein aussagekräftiger Hinweis auf jene Orte, an denen sich der Alltag der meisten Europäer konzentriert. Überhaupt scheinen die in „Glück – Stadt – Raum“ gezeigten Splitter dieses urbanen Lebens aus völlig verschiedenen Welten zu kommen: Bedrohliche Ansichten von Megatouristenstädten der spanischen Mittelmeerküste hängen neben bestürzend harmlosen Abbildungen einer Strandpromenade im niederländischen Scheveningen. Das iberische Megaidyll „Benidorm“ hat übrigens in der Hauptsaison die dreifache Einwohnerdichte von Mexiko-Stadt. Na dann, vamos a la playa!

Schnell wird klar: Gefunden haben die Ausstellungsmacher das perfekte Glück bei ihren Recherchen nicht. So ist das Angebot laut Kuratorin Romana Schneider vielmehr ein Kaleidoskop sehr individueller Versuche. Auch der wie die Rätselrosette von Dalli-Klick segmentierte Grundriss des Parcours scheint auf die zentrale Tatsache hinzuweisen: Vielleicht kann es eine Formel für das Glück in der Stadt gar nicht geben. Der französische Schriftsteller und Essayist Pascal Bruckner ging am Eröffnungstag mit der Desillusionierung noch einen Schritt weiter: Die modernen politischen Ideologien versuchen von jeher erfolglos, ihre Glücksversprechen im Hier und Jetzt zu betonieren.

Doch Glück an sich, so Bruckner, entzieht sich eben der exakten Planbarkeit. Allenfalls könne man die räumlichen Voraussetzungen dafür schaffen. Und das heißt: Architektur, die über den Tag hinaus benutzbar bleibt, weil sie offen für neuen Sinn ist. Es kommt immer darauf an, was die Nutzer aus ihrem Wohnumfeld machen – das zeigt die Ausstellung sehr anschaulich. Christiania zum Beispiel, die berühmte Hippiesiedlung in Kopenhagen. Eigentlich sollte das ehemalige Kasernengelände in den Siebzigerjahren abgerissen werden; dann kamen Besetzer und bauten die Kaserne nach ihren Bedürfnissen um: „Architecture without Architects“. Mittlerweile hat man sich mit dem dänischen Staat arrangiert und lebt selbstbestimmt, ein wenig schmuddelig, aber durchaus zufrieden. Offenbar gehören Glück und selbstbestimmtes Leben hier eng zusammen: „In der ganzen Welt fand ich nicht die Freiheit, die du mir gibst“, heißt es in der Hymne der Christianitter.

Ähnlich zufrieden sehen die Arbeiterfamilien der Ruhrpottsiedlung Eisenheim in die Zukunft. Sie haben gegen den Abriss ihres engen Backsteinviertels und die drohende Umsiedlung erfolgreich Widerstand geleistet. Nicht nur der Erhalt gewachsener sozialer Beziehungen gehört in Eisenheim zum Rezept für das private Glück, sondern auch gesundes Misstrauen gegenüber allzu optimistischen Stadtplanern: „Hochhäuser findest du gut!? Hör mal, da bist du wie im Gefängnis!“

Natürlich gibt es auch zahllose gescheiterte Versuche, gesellschaftliche Freiräume zu erkämpfen. Doch Scheitern, das kann schließlich jedem passieren. So dokumentiert die Ausstellung das Schicksal einer der ersten Shopping-Malls in Europa, des in den Sechzigerjahren gegründeten Einkaufszentrums im englischen New Town Cumbernauld. „Shop till you drop“: gesagt, getan. Der einstmalige Trendsetter wurde mangels Auslastung längst geschlossen und ist vor kurzem der Abrissbirne zum Opfer gefallen. Doch auch das hat etwas ungemein Beruhigendes: Noch die schlimmste urbane Fehlplanung kann man wieder loswerden – und das Paradies anderswo suchen.

„Glück – Stadt – Raum in Europa 1945 bis 2000“, bis 1. Dezember, Katalog (Birkhäuser Verlag) 22 €

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