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Ein Leben zwischen Wut und Webstuhl

Der Verein „Hilfe für das autistische Kind Bremen“ ermöglicht es elf Autisten, auf dem einsamen Gehöft Meyerwiede ein möglichst emanzipiertes Leben als Erwachsene zu führen. Viele Eltern tun sich gleichwohl schwer damit, loszulassen. Und die Warteliste ist endlos lang

„Es ist nicht so, dass autistische Menschen keine Kontakte aufbauen können“

Martin ist aufgedreht. Der junge Mann hat gerade von seiner Betreuerin erfahren, dass er seinen 29. Geburtstag Anfang November zu Hause in Cloppenburg, im Kreise seiner Familie, verbringen darf. „Jippie“, hat er laut gerufen, und dabei hat er einen Luftsprung gemacht. Alltäglich ist diese Art der Emotion nicht, denn Martin ist Autist. Genauer gesagt: Er leidet an frühkindlichem Autismus, einer schwer wiegenden Entwicklungsstörung, die meist mit einer geistigen Behinderung einhergeht. Martin ist einer von elf Bewohnern, die der Verein „Hilfe für das autistische Kind Bremen“ auf Hof Meyerwiede nahe Etelsen, 30 Kilometer südöstlich von Bremen, beherbergt.

Betroffene Eltern gründeten den Verein vor 30 Jahren. 1988 kaufte dieser dann den Hof Meyerwiede, damals das Wochenendanwesen eines Bremer Industriellen. Neben dem Hof, auf dem ausschließlich erwachsene Autisten wohnen, betreibt der Verein in Bremen-Nord ein ambulantes Therapiezentrum für autistische Kinder sowie in Hemelingen eine Wohngruppe für Menschen mit „Asperger“ Autismus, einer abgeschwächten Form der Behinderung. Zwischen vier und fünf von 10.000 Neugeborenen in Deutschland sind frühkindliche Autisten, bei vielen wird die Krankheit erst nach einigen Jahren – anhand von Symptomen – diagnostiziert. Früher pflegte man diese Menschen kurzerhand den „Schizophrenen“ zuzuordnen.

Menschen mit frühkindlichem Autismus bleiben auch als Erwachsene auf Hilfe angewiesen: Es mangelt ihnen an Kreativität und Flexibilität, Emotionen können sie nur schwer steuern. Während ihrer Kindheit sind meist die Eltern die einzigen Bezugspersonen, doch während der Pubertät wächst auch bei Autisten das Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Gleichwohl benötigen sie ein überschaubares, reizarmes Umfeld.

Man solle die Bewohner doch duzen, wünscht Lilli Heuing, die Leiterin von Hof Meyerwiede: „Beim Siezen würden sie meinen, dass ihre Eltern gemeint seien.“ Jede Abweichung von der gewohnten Norm bringt Irritationen mit sich: So stürzt unvermittelt Markus in Heuings Büro und möchte wissen, wie der journalistische Eindringling mit Vor- und Nachnamen heißt. „Wenn er das nicht erfährt, wird er wütend“, sagt Heuing. „Markus ist heute sowieso auf Krawall gebürstet“, ergänzt eine Betreuerin.

Eltern akzeptierten nur zögernd, dass auch einem autistischen Kind irgendwann eine eigene Biografie zustehe, sagt Heuing. Viele der Mütter und Väter, die Meyerwiede gegründet hätten, seien damals „am Ende ihrer Kräfte“ gewesen. Gleichwohl habe es sich um eine reine „Kopfentscheidung“ gehandelt, sich von den Kindern zu lösen. Gefühlsmäßig hätten sich die Eltern noch lange mit der räumlichen Trennung schwer getan.

Die elf Bewohner, zwei Frauen und neun Männer, sind heute zwischen 26 und 33 Jahre alt. Jeder hat sein eigenes Zimmer, das Bad teilt man sich zu zweit. Martin führt den Besucher über den Hof, zeigt die Tischlerei, den Garten, die eigenen Schafe, den Hühnerstall und die Enten. Der Rundgang endet in Martins Zimmer, wo er gerne kleine Autos zusammenbastelt oder Lichttherapie macht. Neben dem Bett liegen zwei Metallplatten, aus denen Martin kein Geheimnis macht: „Mit denen rubbel ich mir immer einen, das erregt mich.“

Dass die Bewohner derart offen über ihre Sexualität reden, sei selten, sagt Heuing. Viele können keine sinnhaften Wörter von sich geben. Ute bringt keinen Ton über die Lippen – und doch zeigt sie, wie es in ihrem Inneren aussieht: In der Weberei fertigt sie mit Akribie Geschirrhandtücher an. „Das ist ein Zeichen dafür, dass es Ute gut geht“, sagt Heuing. Wäre sie zornig, würde Ute schlampiger weben.

Symptome für frühkindlichen Autismus seien „ein qualitativ eingeschränktes Sozialverhalten“, „abnormes Sprechen“ und eine „eingeschränkte Handlungskompetenz“, wagt Lilli Heuing eine vage Definition. Klare Lehrbuchweisheiten aber gibt es nicht – Zwangshandlungen fallen individuell unterschiedlich aus: So ist Utes Zimmer notorisch aufgeräumt, wirkt kahl und kühl. Im Nachbarzimmer liegen Bravo-Hefte verstreut herum, der Bewohner lernt jedoch mit großer Penibilität Fahr-, Dienst- und Stadtpläne auswendig.

Früher wurden Autisten einfach den Schizophrenen zugeordnet

„Autistische Menschen brauchen klare Strukturen“, sagt Lilli Heuing. Jeder hat deshalb seinen individuell auf ihn abgestellten Wochenplan. Nur montags fahren alle miteinander zum Schwimmen nach Bremen, und am Wochenende machen sie Fahrradtouren, gehen in die Disco oder fahren an die Nordsee.

Betreut werden die Autisten von zehn Pädagogen und sechs Zivis. Bis an ihr Lebensende sollen sie auf dem Hof bleiben dürfen. Wird ausnahmsweise doch ein Platz frei, kann sich der Verein vor Interessenten kaum retten: Die Warteliste sei „endlos lang“, sagt Lilli Heuing. Alle vier Wochen verbringen die Hofbewohner ein Wochenende bei ihren Eltern. Die dortige Bemutterung geht Lilli Heuing bisweilen gegen den Strich: Wenn etwa eine Mutter ihrem Sohn Schneemänner auf die Handschuhe nähe, frage sie schon „sanft nach, ob das für einen 30-Jährigen noch opportun ist“. Es sei nicht so, dass Autisten keine neuen Kontakte aufbauen wollten, berichtet Heuing – auch jenseits der Betreuer, denen „die gleiche Augenhöhe“ fehle. Martin vertraue ihr immer wieder an: „Ich wünsche mir so sehr einen richtigen Kumpel.“ Markus Jox

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