: Deleuze‘ und Guattaris Liebling
Sie wachsen, sie vermehren sich, sie brechen sich Bahn durch den Asphalt und sie erobern öffentliches Terrain – und zu guter Letzt machen sie sogar satt: Der Berliner Aktionskünstler Klaus Weber hat hinter den Hochhäusern am Alex eine „Brutstube“ für die enorm starken Trottoirchampignons eingerichtet
von HARALD FRICKE
Der Busfahrer Heinz Schmocker hat sie gesehen, auf der Straße nach Habkern im Rohrmoos: Pilze, die aus dem Asphalt brechen. Trottoirchampignons. Aufgeregt meldete er den Fund an die Berner Oberland News weiter, die gleich einen Fotoreporter losschickten. Immerhin hatte man im Jahr zuvor bereits ein „kapitales Exemplar“ entdeckt, dessen enormer Wuchs Löcher in den Straßenbelag gesprengt hatte.
Szenenwechsel. In der Mendelssohnstraße, auf Höhe der Otto-Braun-Straße 81, ist eine Freifläche hinter den Plattenbauten asphaltiert worden. Mitten auf dem Grundstück steht eine Holzhütte, drum herum schießen noch ein wenig verschämt die Pilze aus dem Boden. Wieder ist es der Trottoirchampignon, Agaricus bitorquis, der starke Mann unter den Pilzen, der bis zu sechs Kilogramm stemmen kann, wenn er wächst.
Ausgesät wurde der urban mushroom von Klaus Weber, der auch die meiste Zeit des Tages in der Hütte haust. Denn dort forscht Weber danach, wie kleine Interventionen im öffentlichen Raum die Wahrnehmung verändern. Die Recherche baut auf Situationismus am Beispiel von Pilzen: Jeder sieht irgendwo welche auf Wiesen oder im Wald wachsen. Aber dass man den Trottoirchampignon auch mitten in der Stadt kultivieren kann, das weiß neben Weber nur die Pilzkundliche Arbeitsgemeinschaft Berlin Brandenburg e. V., die den Künstler beraten hat.
Erst musste ein männlicher Alphachampignon ausfindig gemacht werden; danach galt es, behutsam die Sporen aus dem Pilzhut zu lösen, bis sie sich auf einem Blatt Papier abgelagert hatten. Die Sporen wurden in einer Nährlösung weitergezogen, in der sich allmählich ein weißer Schleim aus Myzelien bildete. Der Rest war nur noch eine Frage der Geduld. Die Masse wurde in einen Beutel mit abgekochten Weizenkörnern geschütttet, sodass der Pilz neue Nahrung hatte. Die befallenen Körner hat Weber Ende September in Bohrlöchern auf dem Asphalt ausgesät, am Wochenende soll Ernte sein. Dann ist der Trottoirchampignon reif für den Kochtopf – wegen seines nussigen Geschmacks gilt er durchaus als Delikatesse.
Aber geht das wirklich? Lassen sich mitten in Berlin, nicht weit vom Alexanderplatz, essbare Pilze züchten, die ebenso gut in einem Mitte-Restaurant auf der Speisekarte stehen könnten? Weber mag diese paradoxe Zuspitzung, bei der Natur, Zivilisation und Metropolenkultur nur einen Sporenflug auseinander liegen. Der Pilz, das ist für ihn eine gerade in städtischen Diskursen oft zitierte Metapher, ein Liebling der „Rhizom“-Theorie bei Deleuze/Guattari. Doch auch als Gegenstand der Realität hängt an Webers Pilzen einige Wunschproduktion: Es wächst, es vermehrt sich, es bricht sich Bahn durch den Asphalt, es erobert sich öffentliches Terrain – und am Ende macht es sogar satt. Daher sein Resümee: „Ich wollte mit meiner ‚Brutstube‘ ideale und funktionale Prozesse zusammenbringen.“
Tatsächlich ist Webers Aktion ein Grenzgang zwischen Kunst, Wissenschaft und Stadtsoziologie. Die Sporen auf Papier sind ein fein gezeichnetes Readymade. Ihre Aussaat kommt einem Sprung in der Evolutionskette gleich, weil sich der Pilz nun, wie Weber von einem Fachmann erfahren hat, in großen Mengen fortpflanzen kann.
Und die Stadtsoziologie? Die bekommt mit den Pilzen einen Beleg mehr dafür, dass sich urbanes Leben schwer unter Kontrolle bringen lässt. Das merkt man schon an Webers Forschungshütte: Nach einem Monat Laborarbeit wollen die Jugendlichen aus dem Plattenbau nebenan das Holzhaus vor dem Abriss retten und für eigene Zwecke umnutzen.
Bis 26. Oktober, Do. bis So. 14–17 Uhr; Ernte am Samstag, 14 Uhr. Mendelssohnstraße / Ecke Otto-Braun-Straße, Mitte
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