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Nachdenken im Alltag

Chanson oder Lied, Pop oder HipHop: Auf dem siebten Berliner Chansonfest gibt es Kerzenlicht, verrückte Kerle, empfindsame Liedermacher, hektische Flaniergeschichten, magischen Realismus und moderne Minimalelektronik mit Melodiefragmenten

von CHRISTIANE RÖSINGER

In Frankreich ist jedes Lied ein Chanson, aus Deutschland kommt das Kunstlied. Schlechte Lieder heißen hier Schlager, gute heißen Popsongs mit deutschen Texten, die mit viel Text deutscher HipHop. Aber es gibt natürlich auch deutsche Chansons. Das sind dann meist die frankreichinspirierten. Selbst bei der deutschen Chansonszene um Cora Frost, Tim Fischer, Pigor und Eichborn, die sich in den letzten Jahren in Berlin entwickelt hat, sind die Grenzen zwischen Chanson und Pop oft nur noch durch über den Veranstaltugsort zu definieren. Zum Chanson sitzt man gerne in kleinen Theatern, die Luft atmet Kleinkunstatmosphäre, das Piano auf der Bühne steht bereit, das Publikum ist leise und aufmerksam.

Auch das Chansonfest, das größte und bekannteste seiner Art, das ursprünglich als Forum des neuen deutschen Chansons gedacht war, hat sich gewandelt, im siebten Jahr ist man von der Ufa-Fabrik in die Kalkscheune gezogen und hat sich den Untertitel „Lied, Song, Chanson, Pop“ aufs Plakat gesetzt. Roter Samt an den Wänden und auf den Tischchen und Kerzenlicht sorgen fürs Ambiente. Sonnenbrand und Hubschrauber nennt sich der erste Act des Abends. Der Sänger trägt einen hellen Strohhut mit schwarzem Band und beginnt mit dem Lied „Zeitbomben in Milchtüten“. Hier hat sich tatsächlich jemand viel Mühe mit dem Text gemacht: „Ich bin haltlos abgestiegen in die Dunkelkammer deiner Welt.“ Dazu krümmt sich der Interpret am Mikrofon, was wohl Ergriffenheit ausdrücken soll. „Bin ich nicht ein verrückter Kerl, aber herrlich verrückt?“, scheint er dem Publikum zuzuzwinkern, das diese Darbietung fassungslos und stumm über sich ergehen lässt . Da kann der Abend nur besser werden. Florian Glässing kommt schüchtern, aber selbstbewusst auf die Bühne, er hat noch nie vor so vielen Leuten gespielt. Seine Lieder sind stark durch die Tom-Liwa-Blumfeld-Schule geprägt: „Du erinnerst mich, ich erinnere dich …“ – „Ein Spiegel für dich, darin siehst du mich.“ Zart und schön spielt er, Zweifel beherrschen die Welt des empfindsamen Liedermachers. Sie muss anstrengend sein, diese Jugend, denkt da der ältere Mensch und wünscht sich eine abgehangene Diseuse oder eine durchgeknallte Popette da oben.

Die Stimmung steigt, als Katharina Franck die Bühne betritt, auf sie haben schließlich alle den ganzen Abend gewartet. Schön sieht sie aus im schwarzen Anzug mit der schwarzen Gitarre, damen- und lausbubenhaft zugleich. Sie trägt Stücke ihrer neuen CD „Zeitlupenkino“ vor. Die „gesprochenen Popsongs“ sind das musikalische Reisetagebuch einer nervösen Jetsetterin, filmmusikalisch vertonte hektische Flaniergeschichten. Man merkt ihr die Erfahrung mit Theater und Hörspiel an. „Modernes Lied mit Kunstanspruch unterstützt durch Minimalelektronik mit Melodiefragmenten“ könnte dieses neue Genre heißen.

Ihre Reiseberichte leben von Überblendungen zwischen alltäglichen und fantastischen, erlebten und imaginierten Momenten. „Wenn du schon einmal festgekrallt in den Nackendaunen eines angeschickerten Sumpfblütenkäuzchens um den Globus geflogen bist, dann weißt du ja, wie anderswo der Regen schmeckt“, deklamiert sie. Da kuscheln sich die Frauen im Publikum ergriffen aneinander.

Wer aber ob dieser etwas gewollt lyrisch daherkommenden Zeilen in leichte Tagträumerei verfällt, kann sich beim Aufwachen immer noch fragen: Ist das jetzt magischer Realismus oder schon Surrealismus? Das ist halt das Schöne am Chanson: Man wird immer auch zum Nachdenken angeregt.

Heute noch, 20 Uhr, Vanessa Maurischat, Dirk Loombeek, Schall und Hauch, Barbara Cueata, Kalkscheune, Johannisstr. 2, Mitte

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