piwik no script img

Das Ende der Aufschieberitis

Glückstee für Ich-AGs und Lebenshilfe für verunsicherte und gestresste Arbeitnehmer: Die Agentur Under Construction und ihre klugen, Spaß machenden Werkstattabende „Wer hat an der Uhr gedreht? – Zeit- und Selbstmanagement“. Ein Selbstversuch

von NINA APIN

„Werkstattabende machen Spaß und klug“, verspricht die hübsch designte Broschüre einer Berliner Berateragentur. Eine Freundin hatte mir die „Werkstattabende“ empfohlen, um mein notorisches Zeitproblem in den Griff zu kriegen. Das Seminar, das mir für 275 Euro helfen soll, mein Leben besser zu planen, trägt den Titel „Wer hat an der Uhr gedreht? – Zeit- und Selbstmanagement“ und wird als „kurzweiliger Themenabend“ angepriesen. Ich bin skeptisch. Zeit- und Selbstmanagement, das klingt nach Tipps zur Effizienzsteigerung mit Powerpoint-Folien und vielen amerikanischen Ausdrücken.

Die Agentur Under Construction sitzt direkt am Kollwitzplatz in gemütlich eingerichteten Altbauräumen. Es gibt keinen Videobeamer, sondern eine Magnettafel, Papierunterlagen und eine Tasse „Glückstee“ zur Begrüßung. Die anderen Seminarteilnehmer sind – alles Frauen. Ganz zufällig, wie Seminarleiterin Caroline-Sophie Meder versichert. Die PR-Beraterin Gabi ist hier, weil sie vor jeder Projektabgabe eine quälende Nachtschicht einlegt und jetzt völlig ausgebrannt ist. Larissa hilft als Fitnesscoach Kunden, ihren Körper zu stärken, schafft es aber selbst nicht, sich gesund zu ernähren – keine Zeit. Katrin ist Steuerberaterin, bekommt aber selbst ihre Finanzunterlagen nicht in den Griff – wann denn? Und ich? Selbständiges Herumwursteln, ehrenamtliches Engagement, unerledigter Bürokram, Zukunftspläne … ich habe immer das Gefühl, zu rennen.

Da sitzen wir, jede einzelne eine moderne Ich-AG, selbstständig, zielstrebig, eigenverantwortlich. Und ziemlich fertig. Ist das hier die Zukunft des Abendseminars? Früher gab es firmenfinanzierte Fortbildung zur beruflichen Weiterbildung der Arbeitnehmer, heute, wo jeder sich selbst der Nächste ist und oft auch der eigene Chef, belegt man Seminare zur persönlichen Weiterentwicklung – auf eigene Kosten natürlich.

Ich bekomme eine Partnerin, mit der ich mich über die drei lästigsten aufgeschobenen Dinge austauschen soll. Wir ziehen uns in die stilvolle Küche zurück, rauchen und reden über Steuererklärungen, verdrängte Reparaturarbeiten und vernachlässigte Verwandte. Nach 15 Minuten Gruppendiskussion ruft die energische Frau Meder die „Mission EDA“ aus. Das launige Kürzel steht für „Ende der Aufschieberitis“. Jede bekommt „Hausaufgaben“ für die nächste Sitzung. Finanzunterlagen ordnen, Termin beim Zahnarzt vereinbaren, Mutter anrufen. Zahle ich wirklich Geld dafür, dass mir jemand sagt, ich soll meine Mutter anrufen? Natürlich nicht. Keines der aufgeschobenen Probleme (im Seminarsprech „Zeitkiller“) ist wirklich dramatisch. Ich habe eher den Eindruck, dass die Teilnehmerinnen dafür zahlen, dass ihre Alltagssorgen ernst genommen werden. Statt der erwarteten Zeitspartricks für Managertypen gibt es hier Tee und gute Worte.

Am zweiten Werkstattabend aber zeigt sich, dass Frau Meder, Seminarleiterin und Inhaberin von Under Construction mehr zu bieten hat als fachkundig betreuten Kaffeeklatsch. Wir bekommen eine „Werteliste“ mit 135 Begriffen vorgelegt. Aus diesen soll jede Teilnehmerin für sich fünf übergeordnete Ziele finden, die ihr Leben bestimmen sollen. Jetzt geht es ans Eingemachte: Wenn mir „Herausforderung“ so wichtig ist, wieso wage ich dann nicht den ganzen Sprung in die Selbstständigkeit? Wenn Katrin „Kreativität“ so wichtig ist, warum ist sie dann immer noch Steuerberaterin? Eine intensive Gruppendiskussion um persönliche Werte und bewusste Lebensplanung beginnt. Die Werteliste ist dabei nur der Aufhänger, es folgt die mitunter schmerzhafte Auseinandersetzung mit der Lücke zwischen den Erwartungen, die man selbst an Leben und Karriere stellt, und der Realität. „Diese Analyse könnte weit reichende Folgen haben“, warnt Caroline Sophie Meder. „Manche werfen danach ihr ganzes Leben um.“

Nun ja. Zumindest wurde ich zu einer intensiven Selbstreflexion gezwungen, die einiges angeschoben hat. Es geht eben nicht nur um möglichst effiziente Einteilung der Zeit, es geht auch darum, die Zeit anders zu verteilen und Grundlegendes zu verändern. Für mich heißt das weniger Ehrenamt, für Katrin möglicherweise berufliche Neuorientierung.

Am dritten Werkstattabend kommen sie endlich, die Tipps zur Zeiteffizienz: das „Alpen“-Prinzip, die 80:20 Regel, der Tagesplan … Doch da bin ich in Gedanken schon bei der Planung für ein neues, selbstbestimmteres und glücklicheres Leben als moderne Ich-AG.

Information: Under Construction, Kollwitzstraße 75, Prenzlauer Berg, Tel: 417 17 63 36. Infos zur neuen „Werkstattabende“-Reihe ab 15. 10. unter: www.werkstattabende.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen