: Auktion der Henker
Wie der Waffenbesitz in den USA besser kontrolliert werden kann, interessiert keinen. Lieber streiten Gerichte, wer den Sniper anklagen darf. Grüße von der Heimatfront (4)
Es ist wahrlich kein hübsches Schauspiel, das die Herren Staatsanwälte da bieten. „Die Auktion der Henker“ wäre ein passender Titel. Seit die mutmaßlichen Heckenschützen John Muhammad und John Lee Malvo in Haft sitzen, keilen sich die Ankläger in Virginia, Maryland und im Bundesjustizministerium um das Vorrecht, den ersten Mordprozess zu führen – keiner jedoch keilt sich leider im US-Kongress um das Vorrecht, das Verbot von Armeegewehren auf dem amerikanischen Waffenmarkt zu fordern. Für die Staatsanwälte in Virginia ist die Sache klar: Schließlich, so ihr Argument, hat man hier seit Wiedereinführung der Todesstrafe 86 Urteile vollstreckt, im liberal verseuchten Maryland aber nur drei. Außerdem hält Virginia seinen Todestrakt für 16-Jährige offen, in Maryland wird erst ab 18 hingerichtet. Malvo ist 17.
Nun wollen auch noch die Behörden in Alabama und Louisiana zu ihrem Recht kommen, wo Muhammad und Malvo wegen zweier Raubmorde angeklagt werden. Auch ein Massenmörder hat nur ein Leben, doch bei dem derzeit herrschenden „Blutrausch“ – so die Zeitung Newsday – könnten am Ende acht Todesurteile für zwei Delinquenten herauskommen.
Das waren keine guten Nachrichten für die Gegner der Todesstrafe, die sich in Chicago just an dem Tag zu ihrer Jahreskonferenz versammelten, als Muhammad und Malvo auf einem Parkplatz bei Washington verhaftet wurden.
Wer dieser Tage Amerikaner treffen möchte, die Deutschland im Besonderen und Europa im Allgemeinen bewundern (was in der politischen Elite der USA kaum mehr vorkommt), der sollte zu einer Versammlung von Abolitionisten gehen. In deren Augen ist Germany ein Hort des Fortschritts, wo jeder Bürger beim Thema Kriminalität weise lächelt und „Resozialisierung“ haucht. Die ersten paar Minuten hört man sich das geschmeichelt an. Dann muss man des Anstands und der Ehrlichkeit halber doch einwenden: Die Abschaffung der Todesstrafe verdanken die Deutschen nicht aufklärerischer Erleuchtung, sondern den Befreiern von der Diktatur – wie den USA –, die ihnen das Prinzip von Rechtsstaat und Menschenwürde mit der Schnabeltasse einflößten.
Chicago hätte in diesen Tagen eigentlich Schauplatz großer Erfolge der Bewegung gegen die Todesstrafe sein sollen. Hier im Bundesstaat Illinois hat Gouverneur George Ryan, ein Republikaner, als Erster in den USA alle Exekutionen gestoppt – nicht zuletzt weil Journalistikstudenten der Northwestern University im Seminar „Investigative Recherche“ immer wieder Fehlurteile aufdecken. Das sagt einiges über den Zustand der Gerichtsbarkeit in Illinois aus. Weil aber ein Gouverneur die Justiz nicht zwingen kann, sämtliche Todesurteile neu zu verhandeln und sich des Grundsatzes „In dubio pro reo“ zu erinnern, ließ er bis letzte Woche die Fälle von sämtlichen 158 Insassen des Todestrakts von Illinois vor einem Begnadigungsausschuss verhandeln – frei nach dem Motto: In dubio pro „lebenslänglich“.
Wer wollte, konnte also pendeln zwischen der Konferenz mit ihren sanftmütigen Quäkern, katholischen Nonnen und rastagelockten Schülern – und dem Gnadenspektakel mit übermüdeten Verteidigern, wütenden Staatsanwälten und Kameraleuten, die auf den nächstbesten Gefühlsausbruch der Mutter eines Mordopfers warteten. Ich geriet in die Anhörung von Fall 23 729: Andrew Urdiales, ehemaliger Soldat und Wachmann, der innerhalb einiger Jahre sieben Frauen entführt und ermordet hat. Die Staatsanwälte – empört darüber, dass sie von einem liberal aufgeweichten Gouverneur um die Früchte ihrer Arbeit gebracht werden sollten – schilderten jeden Mord en detail, und spätestens nach dem dritten Fall konnte man im Saal beobachten, wie der Kampf gegen die Todesstrafe nicht zu gewinnen ist: Die Schwester eines der Mordopfer schluchzte, die Eltern des Mörders starrten hilf- und scheinbar teilnahmslos in die Kameras, der Staatsanwalt schwitzte und bebte, die Verteidiger murmelten betreten etwas von Unzurechnungsfähigkeit. Das Ganze kam um sechs Uhr in den Abendnachrichten, gleich nach den letzten Meldungen über die Washingtoner Heckenschützen – und ein paar Häuser weiter, auf der Konferenz der Abolitionisten, ahnten die meisten, dass sie ihr gerade erst gewonnenes Terrain innerhalb weniger Tage wieder verloren hatten. Das letzte Wort im Fall Urdiales hatte der Staatsanwalt: „Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, hat er die Morde begangen, während er im aktiven Dienst der US Marines stand.“
Das Land ist derzeit im latenten Krieg gegen den Terrorismus und demnächst wahrscheinlich im offenen gegen den Irak. Also wagte niemand den Einwand, dass bei Andrew Urdiales womöglich die militärisch antrainierte Kunst des Tötens einige Hemmschwellen gesenkt hat. Auch John Muhammad hat seine Zielsicherheit bei der Armee gelernt. Aber kein Fernsehmoderator fragte das Naheliegende: Wie viele psychisch labile, gewaltbereite Männer laufen in diesem Land herum, die im militärischen Nahkampf, als Heckenschützen oder Sprengstoffexperten ausgebildet worden sind und sich auf jeder Waffenshow mit einem Arsenal eindecken können? Ehemalige Soldatinnen sind jedenfalls noch nie Amok gelaufen.
Nach allem, was man bisher weiß, hat der 41-jährige Golfkriegsveteran John Muhammad dem 17-jährigen John Malvo eine militärische Grundausbildung verpasst. Er war Malvos Vaterersatz und drill sergeant: Liegestütze, Dauerlauf, Schießübungen, immer wieder Schießübungen. Er hat mit Malvo offenbar genau das getan, was das Militär mit Rekruten in der Grundausbildung tut: die Hemmschwelle gegen das Töten gesenkt.
Ein pensionierter Oberstleutnant namens Dave Grossman hat in einem Buch beschrieben, mit welchen Methoden der Konditionierung die US-Armee arbeitet, seit sie im Zweiten Weltkrieg feststellte, dass nur 20 Prozent aller Infanterieschützen willens waren, auf einen sichtbaren Gegner zu feuern. Im Vietnamkrieg waren es 90 Prozent. Grossman ist nicht zum Pazifismus konvertiert – und diese Zeilen sind auch kein Plädoyer für den Pazifismus. Aber er fordert eine ehrliche Debatte über den Preis, den eine Gesellschaft für diese gezielte Brutalisierung zahlen muss. Er warnt seit Jahren, dass der Waffenkult und eine militarisierte Unterhaltungskultur Zivilisten ähnlich konditioniert wie Soldaten – nur ohne die Kontrolle einer militärischen Hierarchie. Der Mann ist – wen wundert’s – selten Gast in Talkshows. Schon gar nicht in diesen Zeiten des seltsamen, unterschwelligen Kriegszustands.
Elf Tage nach der Festnahme von John Muhammad und John Malvo deutet alles darauf hin, dass die Behörden von Virginia als Erste Anklage erheben dürfen, weil sie nicht nur Muhammad, sondern auch Malvo in den Todestrakt bringen können. Damit beginnt ein makabrer Wanderzirkus der Vergeltung, der Jahre dauern wird. Am Ende wartet der nächste Streit: Wer darf vollstrecken? ANDREA BÖHM
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