piwik no script img

Im Rentenstreit wird Karlsruhe vergessen

Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu einer familienfreundlichen Umgestaltung der Sozialversicherung spielen in der aktuellen Reformdiskussion keine Rolle. Gerichtspräsident Papier fordert von Politikern „Kraft, Mut und Willen“

FREIBURG taz ■ Mit hochgezogenen Augenbrauen verfolgt man in Karlsruhe die Diskussion um eine neue Rentenreform, die zwischen Rot, Grün und der Union so heftig umstritten ist. Denn bei all den in Berlin diskutierten Aspekten hat man, so scheint es, völlig ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Frühjahr 2001 aus dem Blick verloren.

Damals hatte das höchste Gericht gefordert, dass Eltern bei der Pflegeversicherung niedrigere Beiträge zahlen müssen als Kinderlose. Und dem Gesetzgeber wurde ausdrücklich die Prüfung aufgegeben, ob dies auch auf die Rentenversicherung übertragbar ist. Doch in Berlin scheint der Weckruf aus Karlsruhe immer noch nicht angekommen zu sein.

Dabei hatte die Karlsruher Entscheidung vor eineinhalb Jahren doch für großes Aufsehen gesorgt und eine neue Familiendebatte angestoßen. Der Erste Senat des Verfassungsgerichts machte damals deutlich, dass die Sozialversicherung nicht nur von den monatlichen Beiträgen der Versicherten lebt, sondern auch davon, dass neue Generationen „nachwachsen“, die das System auch in Zukunft tragen. Insofern seien Eltern doppelt belastet, kritisierte Karlsruhe: finanziell und durch ihre Erziehungsbeiträge.

Bis Ende 2004 hat der Gesetzgeber nun Zeit, die Vorgaben aus Karlsruhe umzusetzen. Bei der Pflegeversicherung wurde ihm eine Beitragsspreizung zwischen Eltern und Kinderlosen explizit vorgeschrieben, für die Rentenversicherung muss dies zumindest geprüft werden. Dabei ist natürlich klar, dass eine spürbare Entlastung von Familien über die Pflegeversicherung allein nicht möglich ist. Denn der monatliche Höchstbeitrag liegt dort bei rund 55 Euro.

Bisher ist in Berlin allerdings noch wenig passiert. Als Merkposten wurde das Urteil zwar im Koalitionsvertrag erwähnt. Weder aber haben die rot-grünen Fraktionen über die Umsetzung gesprochen noch hat die Bundesregierung mit der Ausarbeitung von Modellen begonnen.

Wie unruhig man in Karlsruhe geworden ist, zeigt ein aktuelles Radiointerview des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier. Er „vermisse“ die angemahnte Diskussion, sagte Papier schon Ende Oktober im SWR-„Interview der Woche“. Karlsruhe lasse dem Gesetzgeber durchaus Spielräume für „substanzielle politische Entscheidungen“, so Papier, „nur man muss eben dazu dann auch die Kraft, den Mut und den Willen haben“. Im Umkehrschluss ist die Drohung hörbar zu vernehmen: Wenn der Gesetzgeber die Prüfung nicht ernsthaft vornimmt, wird Karlsruhe künftig deutlichere Vorgaben machen.

Auch das gestern vorgestellten Konzept zur Einsetzung der Rürup-Kommission dürfte Hans-Jürgen Papier nicht beruhigt haben. Denn dort ist weder von Familien noch von Kindern die Rede. Es sei aber „gut vorstellbar“, dass die Umsetzung des Urteils auch in dieser Kommission besprochen wird“, sagte eine Sprecherin von Gesundheits- und Arbeitsministerin Ulla Schmidt (SPD). Bert Rürup gilt allerdings nicht gerade als Anhänger der Karlsruher Vorgaben.

Aber auch in Karlsruhe selbst waren durchaus nicht alle Richter über das Urteil glücklich. So sprach sich etwa Verfassungsrichterin Renate Jaeger in einem Interview mit der taz (Ausgabe vom 26. Mai 2001) ausdrücklich gegen eine direkte Übertragung des Pflegeurteils auf die Rentenversicherung aus.

Auch die praktischen Folgen sind bisher noch kaum diskutiert worden. Sollen die Rentenbeiträge für Eltern bezuschusst werden oder werden die Beiträge für Kinderlose erhöht? Letzteres würde allerdings dem klaren Ziel zuwiderlaufen, die Lohnnebenkosten zu senken. Und will man wirklich, dass Eltern dank niedrigerer Arbeitgeberbeiträge einen Einstellungsvorteil bekommen?

CHRISTIAN RATH

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen