: Mörderischer Automatismus
Verleger, Filmstars, alle müssen sterben: In seinem Debüt „Nachtfahrt“ erzählt Jan Costin Wagner von einem passionierten Mörder. Geld und Moral sind ihm egal, nur seine Abendgarderobe nicht
von ANSGAR WARNER
Jan Costin Wagners literarisches Debüt, „Nachtfahrt“, ist eine kaltblütig arrangierte Charakterstudie, die an die Substanz geht. Der 1972 im hessischen Langen geborene Autor stellt in den Mittelpunkt seines Erstlingswerks eine Figur, wie man sie eher bei einem russischen Romancier des 19. Jahrhunderts vermuten würde. Dostojewskis berüchtigte Romanfigur Iwan Fedorowitsch Karamasow brachte damals das Credo der Nihilisten auf den Punkt: „Gibt es keine Unsterblichkeit, so gibt es auch keine Tugend, und folglich ist alles erlaubt!“
Auch Mark Cramer, der kompromisslose Held in Wagners Chronik eines kalkulierten Amoklaufs, glaubt an gar nichts mehr. Doch er stellt keine großen Thesen auf. Er handelt, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Süffisanterweise ist die erste Grenzüberschreitung dieses Textes der Mord an einem Verleger. Cramer hat gerade erfolgreich die Biografie eines berühmten Skifahrers veröffentlicht. Doch sein wahres Ziel bleibt es, Schriftsteller zu sein. Als sein Förderer und Auftraggeber das Manuskript des Debütromans in Bausch und Bogen kritisiert, bringt Cramer ihn kurzerhand um.
Der zerstörte Traum von der schöpferischen Existenz hat unwiderruflich einen mörderischen Automatismus in Gang gesetzt. Von Lebensekel überwältigt, liquidiert Cramer seinen weltlichen Besitz und macht sich mit einem Bündel Geldscheinen in der Brieftasche auf den Weg zur französischen Atlantikküste. Dort wartet bereits sein nächstes Opfer: ein einstmals berühmter Filmstar, der seinen Lebensabend in einem mondänen Badeort verbringt, hat Cramer gebeten, seine Biografie zu schreiben.
Cramer übernimmt den Job, jedoch ohne die Absicht, die Arbeit jemals zu beenden. Denn dem Biografen ist der senile Schauspieler als Person vollkommen egal. Mehr noch: Er hält ihn für überflüssig. Bei nächster Gelegenheit wird er ihm eine Kugel durch den Kopf jagen und ihn ins Nichts schicken. Und genau dieses Nichts ist auch das Ziel, auf das Cramer zustrebt.
Nicht ohne Zufall ist die Farbe Schwarz von Anfang an das Leitmotiv des Romans. Jedem der sieben Kapitel ist eine bis zur Hälfte geschwärzte Seite vorangestellt. Das dem Text vorangestellte Motto aus der Genesis des Alten Testaments macht klar, worum es hier geht: eine Antischöpfungsgeschichte, die Rückführung der Welt in das anfängliche Nirwana. Das Nichts ist die einzige Gewissheit, die Cramer noch bleibt.
Ein schlechtes Gewissen hat Cramer bei seinen Taten natürlich nicht. Im Gegenteil. Ständig muss er ein hysterisches Lachen unterdrücken. Wenn er zu Beginn der Handlung in einer Spielbank das gesamte Vermögen auf eine Karte setzt, entspricht das exakt seiner Lebenseinstellung. Das Leben ist nur noch ein Spiel, an dem er freilich längst die Lust verloren hat. Das Schicksal scheint auf diese Art der Herausforderung allerdings mit feiner Ironie zu antworten. In der Spielbank gewinnt Cramer eine bedeutende Summe. Der ermordete Verleger hat ihn in seinem Testament reichlich bedacht. Am Ende bekommt Cramer sogar die junge Geliebte des von ihm beseitigten Filmstars ins Bett.
Cramers nicht nachlassender Erfolg ist auch ein vernichtendes Urteil über das selbstgefällige Verhalten der Kreise, in denen er sich bewegt. Obwohl er seine zynischen Ansichten kaum verhehlt, hält man ausgerechnet ihn für äußerst charmant und liebenswürdig. Das liegt aber eigentlich vor allen Dingen daran, dass er nicht so viel redet wie die anderen. Die vom Leben verwöhnte Badestrand-Bourgeoisie kann sich einfach nicht vorstellen, dass da jemand sein könnte, dem Geld und Moral gleich wenig bedeuten. Eins immerhin ist dem Mann nicht gleichgültig: sein Aussehen.
Am Ende springt Cramer stilvoll mit Abendgarderobe in den nächtlichen Atlantik. Doch er wird nicht ertrinken. Am nächsten Morgen wacht er höchst lebendig am Strand wieder auf. Das Nichts hat ihn verschmäht. Das Spiel geht weiter: „Schwarz kann warten bis morgen.“
Der talentierte Herr Cramer könnte also theoretisch, wie Patricia Highsmith’ talentierter Mr. Ripley, sogar noch durch einige Fortsetzungen spazieren. Und weitere Verleger, Filmstars und bitte auch Spitzensportler um die Ecke bringen. Warum eigentlich nicht!? Den Verlag von einem Sequel zu überzeugen dürfte zumindestens nicht allzu schwer sein. Denn wer ein Manuskript von Jan Costin Wagner ausschlägt, muss ja dabei immer an die möglichen Folgen denken …
Jan Costin Wagner: „Nachtfahrt“. Eichborn, Frankfurt a. M. 2002, 217 S., 17,90 €
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